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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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damals hatte er keineswegs den Ausbruch des Wahnsinns gefürchtet, so wenig eine solche Befürchtung ihn Während der ganzen Reise gequält hatte; und er wußte untrüglich, daß gestern abend im Eisenbahnwagen vor dem Einschlafen das schicksalsvolle Wort für ihn zum erstenmal aus seiner Buchstabentotheit wieder zu lebendiger Bedeutung erwacht war. Damit aber schien ihm der Vertrag zwischen ihm und seinem Bruder neu in Kraft getreten, und jenes Schreiben, das Otto gewiß sorgfältig aufbewahrt hatte, war zum Schuldschein geworden, gegen dessen stumme Unerbittlichkeit es in einer herandrohenden Stunde keinen Einspruch gab. Doch bedurfte es überhaupt eines solchen Scheins? War Otto nicht der Mann, einen Verlorenen aus der Welt zu schaffen, auch ohne durch einen bindenden Vertrag der Verantwortung enthoben zu sein – einfach aus Menschenliebe? Und Robert zweifelte nicht, daß sich kluge und edle Ärzte zu einem Vorgehen solcher Art viel öfter entschließen, als im allgemeinen bekannt zu werden pflegt; auch ohne Rechtfertigungsbriefe in der Hand zu haben, wie Otto einen besaß.
    Aber kam es nicht auch vor, daß Ärzte sich täuschen? Können sie nicht selbst irrsinnig werden und einen geistig Gesunden für geisteskrank halten? Und ist auf solche Art nicht einer dem andern rettungslos ausgeliefert – der Kranke dem Gesunden, wie der Gesunde dem Kranken? An dieser Stelle aber riß Robert sich gewaltsam zurück. Er wollte sich's nicht länger gefallen lassen, daß krankhafte Grübeleien ihn wehrlos in das trübe Land schwankender Möglichkeiten trieben, wo das Höchstwahrscheinliche und das kaum Verstellbare in unlauterer Nähe beisammen wohnten. Wieder warf er einen raschen Blick in den Spiegel. Einen Unterschied zwischen rechts und links vermochte er jetzt nicht mehr wahrzunehmen. Beide Augen bückten etwas trüb und ermüdet, doch war er auf dem linken von Jugend auf ein wenig kurzsichtig gewesen und hatte die Gewohnheit angenommen, es zuweilen zusammenzukneifen. Dazu kam, daß er heute nacht kaum geschlafen hatte. Er sah im ganzen, das war nicht zu leugnen, abgespannt und übernächtig aus. So entschloß er sich, den beabsichtigten Besuch vorläufig zu verschieben, um Otto nach einer gut verbrachten Nacht, erfrischt, in gehobener Stimmung und womöglich – denn auch dies erschien ihm nicht ohne Bedeutung – bei gänzlich aufgehelltem Wetter zum erstenmal wieder gegenüberzutreten.

IV

    Bald darauf trat er aus dem Tor des Gasthofs, behagte sich in der Vorstellung, als Fremder in den Straßen einer unbekannten Stadt umherzuspazieren, und nahm mit Absicht sein Mittagessen in einem Gasthaus, in das er früher niemals eingetreten war. Dann begab er sich auf die Suche nach einer Wohnung, lief stundenlang in verschiedenen Häusern treppauf, treppab, besichtigte Dutzende von leeren und von bewohnten Räumen, störte irgendwo eine junge Dame beim Klavierspiel, unterbrach anderswo einen Lehrer beim Unterricht zweier Knaben, unterhandelte mit zuvorkommenden, gleichgültigen und mürrischen Vermietern und Hausbesorgern und konnte sich bei all dem niemals vorstellen, daß sein ganzes Unternehmen ernst gemeint sei und zu einem bestimmten Ziel fuhren sollte. Einmal geriet er in eine Straße, wo Erinnerungen einer längstvergangenen Zeit ihn umschwebten; hinter jenem Eckfenster im zweiten Stock hatte er vor vielen Jahren glückliche oder doch zum mindesten angenehme Stunden verlebt; und nicht eben schmerzlich, sondern eher wie einer kleinen Unannehmlichkeit wurde er sich des Umstandes bewußt, daß er heute so einsam in der Welt stand wie kaum je zuvor. Flüchtig zog ihm wieder Alberta durch den Sinn; gleich darauf aber, farbig und scharf umrissen, tauchte sehr lebendig das Bild des Fräulein Rolf vor ihm auf, der er sich durch den Abschiedsblick von gestern näher verbunden fühlte. Er versuchte sich ihren Vornamen ins Gedächtnis zu rufen, was ihm vorerst nicht gelang. Übrigens wußte er wenig von ihr und ihrer Familie; es war ihm kaum mehr bekannt, als daß Mutter und Tochter sowohl daheim als auf Reisen meist ohne den Vater zu sehen waren, der, ein gesuchter, fast berühmter Advokat, wegen seiner unglücklichen Neigung zum Börsenspiel doch eines zwiespältigen Rufes genoß. Hiermit mochte es auch zusammenhängen, daß die einzige Tochter, die gewiß schon in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stand, bisher unvermählt geblieben war; und dunkel glaubte sich Robert eines Gerüchtes zu erinnern, das sie mit einem

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