Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
Vom Netzwerk:
Tannen, durch die ein mattblauer Himmel schimmerte, begegneten sich die Freunde. Leinbach war touristisch ausgerüstet, mit Nagelschuhen, Kniehosen, Bergstock und Rucksack. »Was hast du Großes vor?« fragte Robert. – »Nichts weiter«, erwiderte Leinbach, »als mich in die Landschaft zu fügen und für alle Möglichkeiten gerüstet zu sein.« – »Jedenfalls«, sagte Robert, »müßtest du auf meine Gesellschaft verzichten, falls du etwa gesonnen wärst, eine Bergbesteigung zu unternehmen.« – »Ich denke nicht daran, um so weniger, als ich schon um fünf Uhr zwanzig hineinfahren muß.« – »Also wozu der Rucksack?« – »Für den Fall, daß man Lust hätte, im Freien zu essen.« – »Was hast du denn alles mit?« – »Schinken, Käse, Brot, eine Flasche Wein, einen Band Goethe und etwas Verbandzeug.« – »Das auch?« – »War noch von meiner letzten Tour her drin. Ich wollte es schon herausnehmen, aber so etwas hieße das Schicksal versuchen.« Er hing sich in Roberts Arm. »Also erzähle, was hast du die paar Tage heroben gemacht? Schönes Wetter gehabt, nicht wahr?«
    Robert berichtete, daß er beinahe die ganzen Tage im Freien herumgelaufen sei, und ließ die Damen Rolf unerwähnt. Er habe sich im ganzen recht wohl gefühlt, nur ausnehmend viel geträumt, die ganzen Nächte durch, tolles Zeug wahrhaftig! Leinbach zuckte die Achseln. Was und wieviel Robert auch geträumt haben mochte, was war das gegen seine eigenen Träume? Er erlebte Jahre, Jahrzehnte im Schlaf. Einmal, noch als Gymnasiast, hatte er in einer Morgenstunde vor dem Erwachen den ganzen Dreißigjährigen Krieg durchgemacht. »Aber doch nicht sehr ausführlich?« erkundigte sich Robert lächelnd, – »sondern nur den kleinen Plötz, nehm' ich an?« – »Immerhin«, erwiderte Leinbach ernsthaft, »von sechzehnhundertachtzehn bis sechzehnhundertachtundvierzig.«
    Sie schritten einen Waldpfad bergan. »In früheren Jahren«, sagte Leinbach, »pflegte meine Frau mich auf solchen Sonntagsausflügen zu begleiten. Jetzt, nach dem vierten Kind, hat sie es aufgegeben, läßt mich meine Touren allein machen und widmet sich der Häuslichkeit, – oder was sie sonst treiben mag.« Robert blieb stumm. Er fand die Bemerkung seines Freundes ebenso geschmacklos wie lächerlich, da er Frau Leinbach als ein höchst hausbackenes, braves und völlig anmutloses Wesen kannte; – wie sich Leinbach denn überhaupt gehütet hätte, ein Wesen anderer Art zur Ehe zu nehmen, da ihm seelische Unbequemlichkeiten noch weit verhaßter waren als körperliche.
    Als sie dann, immer höher schreitend, unter einer wahrhaft sommerlichen Mittagssonne eine Bergwiese durchquerten, gab dies Leinbach Anlaß zu einem Vergleich mit den trügerischen Sommerstunden menschlicher Herbsttage, von denen kluge Leute sich nicht dürften betrügen lassen. »Warum trügerisch?« meinte Robert ablehnend, »wenn es wirklich warm ist in solchen Stunden ...?! Heute könnte man sich zum Beispiel ohne die geringste Gefahr hier ins Gras legen; wie denkst du drüber?« Leinbach war einverstanden. Sie breiteten die Mäntel aus, streckten sich auf sie hin und blickten talwärts, sich der gleichen Aussicht erfreuend, die Robert tags vorher von weiter unten mit Paula genossen hatte. Ein starkes Wohlgefühl durchdrang ihn. Ich bin gesund und noch jung, sagte er sich. Was ist es nur, was mich manchmal mit so unheimlicher Gewalt überkommt? Wer weiß übrigens, ob nicht die meisten Menschen von ähnlichen Gespenstern heimgesucht werden? Andererseits gibt es vielleicht Leute, die tatsächlich irgendeinmal ein Verbrechen begangen und es völlig vergessen haben. Stand nicht neulich irgendwo zu lesen, daß in England allein jährlich gegen tausend Menschen spurlos verschwinden? Und es wäre immerhin möglich, daß unter diesen tausend manch einer umgebracht worden ist – von irgendwer, der sich später nicht mehr dessen erinnert, geradeso wie ich ...
    Oho, rief er sich selbst an und schnellte auf. Er war mit geschlossenen Augen dagelegen, und nun zitterte und schwankte die Landschaft überhell um ihn. Leinbach sah ihn mit einem sonderbar zwinkernden Blick von der Seite an. Hm, warum war der eigentlich gekommen? Sollte er nicht etwa aus ganz bestimmten Gründen heraufgeschickt worden sein? Von Otto vielleicht? Unsinn. Der hielt ihn ja im Grunde für einen Dummkopf. Und nicht ganz mit Unrecht. Für einen geistreichen Dummkopf, wie er sich neulich einmal ausgedrückt hatte. Immerhin blieb es auffallend, daß

Weitere Kostenlose Bücher