Erzaehlungen
auf die Windungen der Bahn, auf Wiesen, Wälder, Viadukte und auf die herandämmernde Ebene bot. Paula nahm aus ihrer Dose eine Zigarette und bot auch ihrem Begleiter eine an. Die Dose, erzählte sie, habe ihr der Vater vor einiger Zeit aus Moskau mitgebracht. Dann äußerte sie den Plan, im nächsten Jahre eine Reise nach Japan zu unternehmen.
»Allein?« fragte Robert, wie besorgt um sie.
Sie lächelte: »Ich werde mich wohl dazu entschließen müssen. Mama hat zu große Angst vor der Seekrankheit.«
Wie schön wäre das, dachte Robert, mit ihr in der Welt herumzureisen; und er wußte, daß sie seine Gedanken mitfühlte.
Ein leiser Regen setzte ein, und sie machten sich auf den Rückweg. Im Walde kam ihnen die Mutter entgegen, und man sprach von der wunderbaren Insel, wo sie viele Wochen lang so nachbarlich gewohnt und sich gar nicht umeinander gekümmert hatten. »Im Gebirge«, scherzte Paula, »kommen Sie nicht so leicht davon.«
Beim Mittagessen kam das Gespräch auf allerlei gemeinsame Bekannte aus früherer Zeit. Die Bemerkungen Paulas erschienen Robert zuweilen etwas scharf, aber immer treffend. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung fugte es sich, daß Robert von den nervösen Verstimmungen sprach, die der Anlaß seiner Urlaubsreise gewesen, nun aber so gut wie völlig geschwunden seien. Ihm war, als wüßte Paula mehr zu erraten, als er zu erzählen für richtig hielt. Doch er dachte: Ihr dürfte ich auch Verbrechen eingestehen, wenn ich welche begangen hätte.
Während seines einsamen Nachmittagsspaziergangs spielte er mit der Frage, ob er es wagen dürfe, um Paula anzuhalten. Sie gefiel ihm besonders gut. Daß sie nicht mehr allzu jung war, vielleicht schon dreißig, und auch, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach ein ernstes Herzenserlebnis hinter sich hatte, empfand er als weitere Vorzüge ihrer Person. Am Abend saßen sie lang in der Halle zusammen; sie plauderten wie alte Freunde, so daß sie einander endlich mit Verwunderung fragten, warum sie am Meeresstrand wie Fremde, ja, wie sie sich gegenseitig gestanden, anfangs sogar mit einer Art von Antipathie aneinander vorbeigegangen waren.
»Wir haben viel nachzuholen«, sagte Robert, und er fugte hinzu: »In den paar Tagen heroben.« – Sie sah eine Weile vor sich hin, plötzlich, mit einer ihr eigenen, raschen Bewegung, warf sie den Kopf nach der Seite und ließ das Gespräch harmlos weitergehen.
Nachts träumte Robert von der armen Klavierlehrerin, mit der er seinen letzten Wiener Abend verbracht hatte. Er schritt mit ihr einen Waldpfad hin, denselben, den er in jener Abschiedsstunde mit Alberta gegangen war. Sie hielt die Hände in den Taschen ihres langen Regenmantels, und sehr rasch, ohne Robert nur anzusehen, sprach sie völlig unverständliche Worte ins Leere. Er aber wußte, daß dies eigentlich keinen Spaziergang zu bedeuten hatte, sondern seinen eigenen Lebensweg, ja, sein allmählich zur Neige gehendes Dasein; und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit einer halb lächerlichen, halb ärgerlichen Rührung. Als er erwachte, verspürte er in seinem Herzen nur eine unbestimmte Zärtlichkeit und merkte bald, daß diese Zärtlichkeit, ja, all seine liebe der armen Klavierlehrerin galt, die noch um so viel einsamer war als er. Er erhob sich, sah zum Fenster hinaus. Die Scheiben, nach einem leichten Nachtfrost, waren angelaufen und der Himmel wundersam klar.
Er hatte mit den Damen verabredet, daß sie ihn, der früher aufzubrechen gedachte, auf einer kürzlich angelegten, bequemen Bergstraße im Wagen einholen sollten. In einer lang nicht erlebten, beinahe beglückten Stimmung, unter hellem, kühlem Himmel, kräftig, wie nach einem fernen Ziele ausschreitend, wandelte er die langsam ansteigende Straße hinan. Früher, als er vermutet, hörte er das Rollen der Räder hinter sich. Er wartete am Wegrand, der Wagen hielt an, und die beiden Damen, ihn herzlich begrüßend, forderten ihn zum Einsteigen auf. Dankend nahm er ihnen gegenüber Platz. Frau Rolf erzählte, daß sie, wie meist im Gebirge, auch heute erst gegen Morgen eingeschlafen sei. Robert sprach von einer merkwürdigen Beobachtung, die er nun schon zu wiederholten Malen gemacht habe: daß er in der Höhe nicht nur mehr, sondern auch ganz anders träume als daheim. Diese Träume zeichneten sich nämlich dadurch aus, daß die Menschen oder Dinge nicht sich selbst, sondern irgend etwas anderes, ganz weit davon Abliegendes, ja, gar nichts Wirkliches, sondern gewissermaßen Begriffliches
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