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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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verübelte ihr, daß sie sich um ihren Vater nicht genug gekümmert hatte, daß sie in einen alten Musiker verliebt gewesen war, daß sie Zigaretten rauchte, und besonders, daß sie vom Semmering abgereist war, ohne ein Wort der Aufklärung für ihn zurückzulassen. Dabei war er sich völlig klar über das Ungerechte, ja, Unsinnige all dieser Beschuldigungen, die er sehr wohl als das erkannte, was sie waren, als Vorwände für das diesmal vorzeitige Erwachen eines Hasses, der sich in früheren Fällen seinen Liebesgefühlen immer erst allmählich beigesellt hatte. Was er jetzt in sich erlebte, war nur ein Beispiel mehr für das unheimliche Auf und Nieder seiner Empfindungen, die demselben Menschen gegenüber von opferbereiter Zärtlichkeit und verzehrender Leidenschaft bis zu Abneigung Widerwillen, Grimm, Wut und Todeswünschen zu schwanken vermochten.
    Und wo ist am Ende der Unterschied, fragte er sich, zwischen einem Todeswunsch und einem Mord? Gedanken vergehen, Taten sind unwiderruflich. Ist das nicht eine Tücke der Vorsehung? Die Empfindung, durch die eine Tat möglich geworden, ist längst erloschen, ist vielleicht in ihr Gegenteil umgeschlagen; und die Tat bleibt getan. Nehmen wir an, das Gift, das ich Brigitte gab, hätte nicht gewirkt. Am nächsten Morgen wäre sie wieder aufgewacht, lebte vielleicht noch heute, und kein Mensch ahnte, was geschehen, oder vielmehr, was beabsichtigt gewesen war. Ich selbst würde es nicht ahnen, denn ich hätte es ja vergessen. Ich habe es vergessen. – Hab' ich das wirklich? Nein, ich erinnere mich ja ...
    »Habe ich dich lange warten lassen?« fragte Otto, und die Gartentür fiel hinter ihm ins Schloß.
    »Oh, gar nicht«, erwiderte Robert und faßte sich rasch. »Es war sehr angenehm, in der stillen Straße auf und ab zu spazieren.«
    Sie stiegen ein. Otto machte Aufzeichnungen in sein Notizbuch. »Wo soll ich den Wagen halten lassen?« fragte er nebenhin seinen Bruder. – »Ganz egal. Wenn dich dein Weg vielleicht in der Nähe meines Gasthofs vorbeiführt.« – »Das läßt sich vielleicht machen. Schade übrigens, daß du deine Wohnung aufgegeben hast. Ich hab's eigentlich nicht recht begriffen.« – »Ich mußte doch wohl.« – »Du mußtest –?« – »Ich habe ja nicht gewußt, ob es mir jemals wieder möglich sein würde, in einer großen Stadt zu leben und meinen Beruf auszuüben.« – »Wie kannst du das sagen«, meinte Otto und steckte sein Notizbuch ein. – »Du scheinst dich nicht zu erinnern«, erwiderte Robert, »wie miserabel es mir gegangen ist; auch im Beginn meiner Reise bin ich noch«, er zögerte eine kurze Weile, »von allerlei dummen Ideen geplagt gewesen.«
    Otto sah seinen Bruder freundlich-spöttisch von der Seite an. »Was waren denn das für Ideen, wenn man fragen darf?« – »Nicht der Rede wert ... sie waren so dumm, wie es eben Zwangsvorstellungen zu sein pflegen.« – »Na, willst du mir nicht was davon erzählen?« sagte Otto mild. – »Also denke dir«, begann Robert etwas unsicher, »daß ich mich zum Beispiel längere Zeit hindurch nicht entschließen konnte, das Wasser zu genießen, das mir abends ins Zimmer gestellt wurde, in der Befürchtung, daß irgendwer, sei es nun jemand vom Dienstpersonal oder ein anderer Gast, dem Wasser irgendeine schädliche oder gar tötliche Substanz beigemischt haben könnte.«
    »Nun, und –?«
    »Das ging so weit, daß ich in manchen Nächten, wenn es mir nicht möglich war, mir ein anderes Getränk zu verschaffen, lieber den quälendsten Durst litt, als einen Tropfen zu trinken.«
    »Und –?«
    »Ja, was willst du noch wissen? Diese Einbildungen, oder Wahnideen, sind natürlich wieder spurlos verschwunden, wie andere vorher.«
    »Selbstverständlich. Aber ich frage dich, ob du aus deinen Befürchtungen irgendwelche logische Folgerungen gezogen hast? Ob du – einmal wenigstens – das dir verdächtige Wasser hast chemisch untersuchen lassen? Ob du deinen Verdacht gelegentlich auf bestimmte Personen gerichtet und eine Anzeige erstattet hast?«
    »Das allerdings nicht. Aber darauf kommt es wohl nicht an.«
    »Gewiß kommt es darauf an, mein lieber, ob eine sogenannte Zwangsvorstellung zu weiteren Konsequenzen führt, insbesondere, ob sie sich in Zwangshandlungen umsetzt oder ob sie rechtzeitig korrigiert wird. Solange man in der Lage ist, eine seelische Störung in dem Augenblick abzustellen, wo es bedenklich wäre, ihre logischen Konsequenzen zu ziehen, so lange, du entschuldigst schon, habe

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