Erzaehlungen
Leinbach den Blick so rasch wieder abgewandt hatte und nun scheinbar gleichgültig zum Himmel aufstarrte. Robert begann zu pfeifen, er wußte selbst nicht recht warum. War es, um Leinbach zu prüfen, um ihn zu ärgern oder um ihn hinters Licht zu fuhren? Plötzlich erhob er sich und schlug vor, sich auf den Rückweg zu machen. Leinbach nickte und rüstete sich etwas umständlich zum Abstieg. Da Robert ein paar Schritte vorausgeeilt war, bemerkte Leinbach trocken: »Deine Lähmung scheint ja zurückgegangen zu sein.« – Robert wandte sich hastig nach ihm um. Doch die Miene des Freundes zeigte nur den gewöhnlichen Ausdruck eines matt überlegenen Spottes. »Ich habe mir nie eine Lähmung eingebildet«, sagte Robert. »Ein Hypochonder mag ich ja sein, aber ein Idiot bin ich nicht. Übrigens habe ich mich noch nie so jung und so frisch gefühlt wie jetzt.« – »Ja«, seufzte Leinbach, »wer auch sechs Monate Urlaub nehmen könnte! Wenn unsereiner so lange seine Freiheit haben wollte, müßte er gradezu durchbrennen. Im übrigen«, setzte er anscheinend unvermittelt hinzu, »was sagst du zu der Affäre Rolf?«
»Affäre Rolf?« Robert stand das Herz still. Was hatte das zu bedeuten: Affäre Rolf? Hatte das einen Bezug auf ihn? War er in irgendeine Sache verwickelt, ohne es zu ahnen? Paula? Sie sind gestern beide abgereist. Mutter und Tochter. Es war vollkommen ausgeschlossen, daß er Paula umgebracht hatte. Fassung, Ruhe! Was war das wieder?! Er hatte doch nie jemanden umgebracht. Das stand ja fest, er wußte es – nie. »Was ist das für eine Affäre?« fragte er ruhig.
»Ach, du hast wohl heute noch keine Zeitung gelesen? Doktor Rolf ist durchgegangen. Unterschlagene Depots, Mündelgelder und dergleichen – man hat schon lang was gemunkelt.«
»So, durchgegangen? Ich habe noch nichts gelesen. Übrigens kenn' ich ihn nur ganz flüchtig. Aber seine Familie habe ich erst gestern gesprochen. Sie waren hier heroben, Frau und Tochter. Gestern abend sind sie abgereist.«
»So – die waren hier? In der Zeitung stand allerdings, sie seien von Wien abwesend ... ja ... Offenbar hat er die Familie heraufgeschickt, um indes in Ruhe seine Vorbereitungen treffen zu können. Er soll schon seit sechsunddreißig Stunden verschwunden sein. Schade um ihn. Er war ein sehr begabter Mensch.«
Robert konnte sich der Empfindung nicht erwehren, daß er eigentlich eine angenehme Neuigkeit erfahren hatte. Durch das Unglück, das die Familie betroffen, war er Paula nähergerückt, war in gewissem Sinne in ein geheim-verwandtschaftliches Verhältnis zu ihr geraten. Er sprach mit Leinbach über die Angelegenheit nicht weiter; doch statt erst am nächsten Morgen, wie seine Absicht gewesen, reiste er noch am selben Nachmittag mit ihm heim, zu Leinbachs großer Befriedigung, der zwar stets behauptete, für Einsamkeit zu schwärmen, aber sich ohne Gesellschaft sehr unglücklich zu fühlen pflegte.
Bei der Art seiner Beziehungen zu der Familie Rolf konnte Robert, so sehr es ihn dazu drängte, doch nicht daran denken, persönlich Erkundigungen im Hause einzuziehen. Doch verließ er noch in später Stunde seinen Gasthof, um, von unbezwinglicher Sehnsucht getrieben, an den zu seiner Verwunderung zum Teil hellerleuchteten Fenstern der Rolfschen Wohnung vorüberzuwandeln. Allmählich erst besann er sich, daß auch das außerordentliche Schicksal sich nicht sofort in einer entschiedenen Veränderung äußerer Lebensformen auszudrücken pflegt und daß Paula – selbst wenn sie in diesem Augenblick im eigentlichsten Sinn viel ärmer sein mochte als jene Klavierlehrerin, die sich nach einem dürftigen Liebesabenteuer die Reste des Abendessens mit nach Hause genommen – gewiß noch längere Zeit hindurch ein behagliches Heim bewohnen, schöne Kleider tragen und keineswegs Hunger leiden würde. Er sah Schatten sich hin und her bewegen, beobachtete dann, daß Lichter verlöschten und in einem benachbarten Raum aufflammten; später fuhr ein Wagen vor, ein vornehm aussehender Herr stieg aus, der dann im Haustor verschwand. Robert begann sein Hin- und Herwandern vor dem Hause, in das er ja doch nicht eintreten wollte, als zwecklos und lächerlich zu empfinden und machte sich auf den Helm weg.
IX
Die Zeitungen des nächsten Tages behandelten den Fall Rolf mit auffallender Zurückhaltung: die Angelegenheit sei zwar noch nicht völlig klargestellt, von einer Flucht könne aber gewiß nicht die Rede sein, da der Aufenthalt des Advokaten nicht nur der
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