Erzaehlungen
tiefer Zusammenhänge erkannt hatte, die dem Spieler selbst notwendig verborgen blieben. Robert spürte eine wachsende Erbitterung in sich aufsteigen; plötzlich warf er die Karten auf den Tisch und verbat sich mit zornigen Worten alle weiteren Weisheiten des »philosophischen Kiebitzes«. Leinbach lachte wohl, entfernte sich aber bald und verschwand aus dem Kaffeehaus, ohne sich von Robert verabschiedet zu haben. Dieser bereute jetzt seine Heftigkeit um so mehr, als auch seine Spielgenossen ihn mit Befremden betrachteten und sich durch Blicke zu verständigen schienen. Er nahm sich zusammen, beteiligte sich weiter am Spiel, und als nach einer Stunde abgerechnet wurde, durfte er mit gutem Grunde glauben, daß man sein früheres aufgeregtes Wesen wieder vollkommen vergessen hatte. Immerhin konnte er sich im Nachhausegehen nicht darüber täuschen, daß er, der doch hergekommen war, um sich eines Verbündeten zu versichern, jetzt womöglich noch einsamer und, was das schlimmste war, verdächtiger dastand als vorher.
XIV
Am nächsten Morgen begab er sich nicht ins Amt, sondern unternahm einen Spaziergang, der ihn in entlegene, zu dieser Jahreszeit, insbesondere an einem so trüben Nebeltage, fast völlig verlassene Pratergegenden führte. Niemand konnte ihn hier vermuten, er hatte das Gefühl vollkommener Sicherheit, von keiner Seite drohte irgendwelche Gefahr. Später saß er in einer wohlgeheizten Wirtsstube bei einem einfachen Mittagmahl und wurde nun mit einigem Staunen inne, daß er im Laufe der eben verflossenen Stunden seiner Braut gar nicht gedacht hatte und daß sie ihm jetzt, da er sich ihr Bild ins Gedächtnis rief, nicht scharf umrissen, als die bedeutungsvollste Erscheinung seiner gegenwärtigen Existenz, sondern daß sie in verschwommenen Linien, als gehöre sie einer vergangenen Periode seines Lebens an, vor ihm auftauchte. Er sah sie, von Schneeflocken umweht, auf einem kleinen Balkon stehen, die Hände auf die Brüstung gestützt und nach unten blickend. Doch lag dort nichts, was jenen neulich geschauten Vorstadtgärten im geringsten glich, sondern eine nebelhaft zerfließende italienische Stadt, in der er vor vielen Jahren auf der Hochzeitsreise mit seiner Gattin umhergewandelt war. Aber keinerlei Sehnsucht wurde wach in ihm, weder nach jener längst Dahingeschwundenen noch nach der gegenwärtig Geliebten. Und wenn er jetzt überhaupt jemanden in seine Nähe, ja an seine Seite wünschte, so war es, wie er mit Befremden inne wurde, niemand anders als jene ärmlich verblühende Klavierlehrerin, die er vergessen zu haben glaubte. Und er empfand, daß von allen Menschen, die lebten, sie vielleicht das Wesen war, das am allerstärksten zu ihm gehörte und dessen Schicksal mit dem seinigen geheimnisvoll zusammenstimmte; und daß ihre beiden Daseinslinien sich einmal hatten kreuzen müssen, um dann sofort wieder für alle Zeiten auseinanderzustreben, das schien ihm einen verborgenen Sinn, eine in die Zukunft weisende Bedeutung in sich zu bergen. Und das Bild der blassen Frau begann allmählich solche Lebendigkeit zu gewinnen, daß ihm ward, als sähe er sie draußen vor den Fenstern der Wirtsstube leibhaftig vorübergehen und langsamen den entlaubten Auen verschwinden. Er fragte sich: War dies eine Warnung, eine Mahnung?
Daß die Erscheinung irgend etwas zu bedeuten hatte, wenn sie auch nur aus seiner eigenen Seele in den Nebel dieses Tages emporgestiegen war, daran konnte er nicht zweifeln. Aber wohin deutete sie? Ins Gute oder ins Schlimme? Wem kann man solche Dinge erzählen, fragte er sich weiter. Niemand könnte sie begreifen, und vielleicht sind sie von allen, die uns begegnen, die wesentlichsten. Darum ist man so allein.
In dieser Wirtsstube, wo ihn zu dieser Stunde niemand vermuten konnte, im Dämmer eines frühen Dezembernachmittags, erschien er sich wundersam losgelöst von allen, mit denen er diesen Morgen noch sich nach Menschenart verbunden gewähnt hatte; alle, Braut, Bruder und Freunde, waren wie Schatten der Vergangenheit; und zugleich war ihm, als müßte auch er jenen allen in dieser Stunde nur als blasses Bild durch die Erinnerung schweben. Dies war ihm zuerst nur wie ein seltsamer, fast süßer Schauer, der sich aber allmählich in ein leises Grauen verwandelte; endlich stieg in ihm eine Angst an, die ihn aufjagte und durch die dämmernde, menschenleere, feuchte Allee gegen die Stadt zurücktrieb, als hätte jeder Schritt, der ihn dem Lebensgetriebe näher brachte, zugleich die Kraft,
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