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Erzaehlungen

Erzaehlungen

Titel: Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schnitzler
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sein blasses Erinnerungbild in den Herzen der Menschen, die ihn liebten, in ein schärferes und lebendigeres zu wandeln.
    Und nun wußte er wieder, daß ein Wesen seiner wartete, das ihm für alle Zeiten zu eigen gehörte, daß ein Bruder seiner dachte, der ihn liebte, ihn vielleicht noch mehr liebte, als es Paula tat, mehr als irgendein Mensch auf der Welt ihn jemals geliebt hatte; ja, der in seiner liebe bereit war, das Ungeheuerste zu vollbringen und schwerste Schuld auf sich zu nehmen, um ihn vor einem Leben im Wahnsinn zu bewahren.
    Er erbebte. Plötzlich wieder war er sich der Gefahr bewußt geworden, die ihn bedrohte. Der Brief! Otto hatte den Brief in Händen, an dem Roberts Schicksal und Leben hing. Der Brief mußte aus der Welt geschafft werden: dies vor allem. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn dem Bruder abzuschmeicheln, abzufordern, abzudrehen. Endlich einmal mußte er sich mit Otto aussprechen – über den Brief und über vieles andere ... Was zwischen ihnen sich entsponnen, rätselvoll und tief, vielleicht in frühester Kindheit schon, dieses Ineinanderspiel von Verstehen und Mißverstehen, von brüderlicher Zärtlichkeit und Fremdheit, von liebe und Haß – es mußte endlich zum Austrag kommen. Noch war es nicht zu spät für sie beide, noch einmal hatte er sein Dasein in eigenen Händen, noch einmal der Bruder das seine. Nun war für Otto der Augenblick da, sich zu entscheiden zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Klarheit und Verwirrung, zwischen Leben und Tod. Er für seinen Teil, er hatte sich entschieden. Sein Geist war klar, seine Seele gerettet. Nun war auch dem Bruder noch einmal, das letztemal, die Wahl geschenkt.
    Als Robert eintrat, blickte Otto von seinem Eintragungsbuch auf, in das er eben Notizen einzuzeichnen im Begriff war. Robert las in diesem Blick, Erstaunen, Mißbilligung und ein leichtes Erschrecken. Er erschien sich ein wenig wie ein Schüler, der, nicht genügend vorbereitet, sich einer bedeutungsvollen Prüfung unterziehen mußte und nun gezwungen ist, sich in seinen Antworten ganz auf die Eingebung des Augenblicks zu verlassen. So nahm er denn einen übertrieben frischen Ton an, den er selbst sofort als gekünstelt empfand.
    »Ja, ich bin's«, sagte er. »Zu einer etwas ungewohnten Stunde, nicht wahr. Störe ich dich vielleicht?«
    »Durchaus nicht«, erwiderte Otto und sah auf die Uhr. »Willst du dich nicht setzen? Wie geht es deiner Braut?«
    »Danke, sehr gut. Sie hat jetzt alle Hände voll zu tun, wie du dir denken kannst. Die Wohnung ist aufgenommen; weißt du, die, von der wir dir neulich erzählt haben; mit dem Blick in die Gärten. Aber um dich nicht über Gebühr aufzuhalten, – ich komme aus einem ganz bestimmten Grund. Wie ich dir schon neulich erzählte, bin ich damit beschäftigt, wie es sich in solchen Lebensperioden ziemt«, er lächelte wie verschämt, was ihm gleich wieder kindisch vorkam, »Ordnung in meine alten Papiere zu bringen. Da habe ich nun unter andern auch Briefe von unserem gemeinsamen, längst verstorbenen Freund Höhnburg gefunden.« Otto nickte zum Zeichen, daß er sich erinnere. »Und bei dieser Gelegenheit«, fuhr Robert fort, »ist mir eingefallen, daß du dich noch im Besitz eines etwas lächerlichen Schriftstückes von mir befinden dürftest, das ich gern wieder haben möchte.«
    »Ein lächerliches Schriftstück?« Otto sah ihn befremdet an.
    »Solltest du dich nicht erinnern«, sagte Robert; und etwas zu geschwind, wie er selbst fühlte, entfuhr ihm das erklärende Wort: »Mein Todesurteil.« Und er lachte zugleich.
    »Dein Todesurteil?« wiederholte Otto, anscheinend noch immer ohne zu verstehen. Aber gleich darauf verriet ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen, daß er verstanden hatte.
    »Du erinnerst dich also«, fiel Robert so hastig ein, als hätte er den Bruder ertappt, und er lachte wieder.
    Otto verzog die Miene in seiner spöttischen Art. »Ich kann allerdings keine Garantie übernehmen, daß sich dieses Schriftstück noch in meinem Besitz befindet, denn ich habe die Gewohnheit, alle paar Jahre unter dem Zeug, das sich so im Laufe der Zeit ansammelt, aufzuräumen; und es wäre nicht unmöglich, daß auch dein Brief von damals, wie allerlei anderes, irgendeinmal in Flammen aufgegangen ist. Aber wenn du Wert darauf legst, will ich nachsehen.« Er sprach mit einer Ruhe, die sehr absichtlich wirkte.
    »Wenn du einmal Zeit hast«, sagte Robert rasch, »so wäre ich dir dankbar, denn ich möchte nicht – und du wirst es

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