Erzaehlungen
versenkte er sich in Nachrichten von nah und fern, die ihm so gleichgültig waren, daß er bald über ihnen einschlummerte.
Als er wieder zu sich kam, glitt der Zug durch ein enges Felsental. Der Flockenfall hatte aufgehört, und von dem starren Schnee, der auf den sanfteren Hängen und über dem Nadelholz liegengeblieben war, zeigte der Abend sich wunderbar erhellt. Bald traten die Felsen so eng zusammen, daß das Brausen der Ache aus der Tiefe vielfach verstärkt heraufdrang. Dort, wo die Berge zurücktraten, war der blaue Winterhimmel ausgestirnt und weitgespannt zu erschauen. Als der Zug ein paar Minuten in einer Station hielt, öffnete Robert das Fenster. Die Luft war kalt und erfrischend, die Stille tröstlich und gut. Die Seltsamkeit seiner Reise kam Robert zu Bewußtsein. Ob es am Ende wirklich nur eine Reise war? Ob das, was er als Flucht geplant und unternommen, nicht bestimmt sein konnte, als Vergnügungsfahrt zu enden? Ein letztes Mal regte sich die Hoffnung in ihm, daß er sich vielleicht doch getäuscht hätte, daß sein Bruder nicht wahnsinnig war, daß alles gut enden werde, daß er selbst in die Lage kommen könnte, Paula gegenüber seine Geschichte von dem eifersüchtigen Amerikaner als ein Märchen auszugeben, zu dem Zweck erdacht, um der Geliebten die Zustimmung zu einer vorzeitigen Hochzeitsreise zu entlocken. Doch das dauerte nicht lange. Eine so trügerische Beruhigung, die ihm gewiß nur aus einer Erschlaffung seiner Nerven kam, war er verpflichtet abzuweisen, da sie doch nur eine neue Gefahr bedeutete. Er erinnerte sich des heutigen Morgens, des letzten Blicks aus den Augen seines Bruders, und er wußte, daß er sich auf einer Flucht befand.
Der Zug hielt in dem kleinen Marktflecken, den Robert in der Erinnerung einiger mit Alberta hier verbrachter Sommertage als vorläufigen Aufenthaltsort gewählt hatte. Nun, da er das langgestreckte Dorf, das er sich auch auf der Herreise immer nur im frischen Grün und in Sommerfarben vorzustellen vermocht hatte, winterlich verschneit vor sich liegen sah, war ihm, als empfange ihn eine ganz andere, eine fremde, nie vorher geschaute Gegend. Er überließ einem Lohndiener seine Tasche und folgte ihm über eine Brücke, unter der die Ache rauschte, durch eine längs des Wassers hinführende Allee, deren er sich aus jenem Sommer wie eines hohen, schützenden Baumganges erinnerte, endlich durch einen Torbogen, unter dem aus einer schmiedeeisernen Laterne ein mattes, gelblichrotes Licht schimmerte, auf den verlassenen Hauptplatz mit dem schweigenden Brunnen, zum Gasthof hin. Ein großes Zimmer wurde ihm angewiesen, dessen hohes Bogenfenster dem blaßleuchtenden Gebirge zugewandt war. Über der alten Kommode an der Wand hing in Öldruck lebensgroß ein Madonnenbildnis. Zu beiden Seiten des breiten Bettes sanken bescheidene Kattunvorhänge nieder. Robert erklärte sich mit dem Zimmer einverstanden und bemerkte, daß seine Gattin mit dem nächsten Zug, abends um zehn Uhr, eintreffen werde. Die Glühlampe, die von der Decke herabhing, leuchtete so schwach, daß er sich genötigt sah, Kerzen zu verlangen. Man stellte sie ihm in zwei Messingleuchtern auf den riesigen, wackligen Tisch, dann blieb er allein. Eine Weile sah er durchs Fenster über Dächer, beschneites Ackerland, bewaldete Hänge zu den Felsen hin, zwischen deren verschneiten Rinnen und Rissen das graue Gestein dünnwandig, unkörperlich ihm entgegenstarrte. Als in dem grünlichen Kachelofen nach einiger Zeit die Holzscheite zu glimmen und zu knistern begannen, setzte er sich, noch immer im Pelz, auf den schwarzen, ans Bett gerückten breitlehnigen Lederstuhl. Drei einsame Stunden lagen vor ihm. Sein Vorsatz war, die Zeit zu benutzen, um für alle Fälle in knapper Form die Umstände niederzuschreiben, die ihn zu seiner plötzlichen Abreise bestimmt hatten; ob nun das, was er zu schreiben gedachte, jemals von irgendeinem Menschen gelesen werden oder ob es nur zu seiner eigenen Sammlung und Beruhigung dienen sollte.
Er ließ sich ein paar Bogen Kanzleipapier bringen, setzte sich an den Schreibtisch, und mit einer Sicherheit des Wortes, wie sie ihm sonst nicht zur Verfügung stand, in kurzen, eindringlichen Sätzen, warf er, da er ganz unwillkürlich mit Daten seiner Geburt und frühesten Kindheit begönnen, einen Abriß seines ganzen Lebens bis zum heutigen Tage aufs Papier.
Er schrieb mit fliegender Feder zwei Stunden lang; und die letzten Worte, die er, vorläufig abschließend, hinsetzte, lauteten:
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