Erzählungen
auch die dramatischen Werke dem Temperament der ausführenden Künstler und Künstlerinnen fügen, und so war es, obgleich die Pforten des Kunsttempels um vier Uhr geöffnet und erst um zehn Uhr geschlossen wurden, bis jetzt noch nicht gelungen, mehr als zwei Acte in diesen sechs Stunden zur Aufführung zu bringen. Robert der Teufel , die Hugenotten oder Wilhelm Tell nahmen gewöhnlich drei Abende für ihre Darstellung in Anspruch so langsam spielten sie sich ab. Die Vivaces wurden in einem Tempo wie Adagios genommen, die Allegros beeilten sich kaum mehr, und die Vierundsechzigstel-Noten wurden etwa so langsam gespielt, wie etwa ganze Noten in andern Ländern. Die schnellsten, im Geschmack der Quiquendonianer ausgeführten Läufe verstiegen sich bis zum Rhythmus des Kirchengesangs. Die Triller erschlafften und wurden abgezirkelt, um das Ohr der Dilettanten nicht zu verletzen. Die Art und Weise dieser Musikaufführungen recht klar zu machen, möge folgendes Beispiel dienen: Die schnelle Melodie des Figaro bei seinem Erscheinen im ersten Act des Barbiers von Sevilla wurde nach No. 33 des Metronoms regulirt und dauerte volle achtundfünfzig Minuten, wenn nämlich der Schauspieler die gehörige Routine hatte.
Begreiflicher Weise mußten die von auswärts kommenden Künstler sich dieser Methode anbequemen; da man sie indessen gut honorirte, wurde keine Klage laut, und sie folgten genau dem Bogen des Musikdirectors, der nie mehr als acht Taktschläge in der Minute ausführte.
»Auf Wiedersehen, Suzel«… (S. 38.)
Welche Beifallsrufe wurden aber auch den Schauspielern zu Theil, wenn sie die Quiquendonianer in Entzücken versetzt hatten, ohne sie müde zu machen! Die Hände klatschten in ziemlich langen Zwischenpausen in einander, und wenn der erstaunte Saal zuweilen nicht unter den Bravos zusammenbrach, kam dies einzig daher, daß man im zwölften Jahrhundert nicht Stein und Cement im Fundament zu sparen pflegte. Die Zeitungen pflegten nach solchen Abenden von stürmischem Applaus und fanatischen Beifallsbezeugungen zu berichten.
Um übrigens die enthusiastischen Flamänder-Naturen nicht zu sehr zu erhitzen, spielte das Theater jede Woche nur ein Mal, was den Schauspielern für die gründliche Erlernung ihrer Rollen zu gute kam und den Zuschauern ermöglichte, die dramatischen Meisterwerke besser zu verdauen.
Gewöhnlich pflegten auswärtige Künstler mit dem Theaterdirector in Quiquendone ein Engagement abzuschließen, wenn sie sich von ihren Strapazen auf anderen Bühnen erholen wollten, und Niemand dachte daran, daß in diese althergebrachten Gewohnheiten irgend eine Aenderung kommen könnte, als vierzehn Tage nach der Schut-Custos-Angelegenheit ein unerwarteter Fall die Bevölkerung von Quiquendone in neue Aufregung versetzte.
Es war Sonnabend, der gewöhnliche Operntag; aber heute sollte die neue Beleuchtung noch nicht erprobt werden, wie man glauben könnte. Die Röhren mündeten zwar schon im Saale, aber aus den bereits angegebenen Gründen waren die Brenner noch nicht aufgesteckt, und so warfen heute nur die Kerzen des Kronleuchters ihr mildes Licht auf die zahlreichen Zuschauer die sich im Theater versammelt hatten.
Nachmittags um ein Uhr waren die Thüren für das Publicum geöffnet worden, und um drei Uhr hatte sich der Saal schon halb gefüllt, während noch eine lange Queue bis zum Ende des Saint-Ernuph-Platzes, wo sich die Apotheke von Josse Liefrinck befand, hinausreichte. Dieser Eifer ließ auf eine außergewöhnlich schöne Vorstellung schließen.
»Gehen Sie heute in’s Theater? hatte Rath Niklausse am Morgen den Bürgermeister gefragt.
– Ich werde nicht verfehlen; auch gedenke ich meine Frau, unsere Tochter Suzel und die liebe Tatanémance hinzuführen, denen ja schöne Musik über Alles geht.
– Fräulein Suzel wird also auch hinkommen? fragte der Rath.
– Gewiß, Niklausse.
– Dann wird mein Frantz jedenfalls zu den ersten gehören, die heute Queue machen, erwiderte der Rath.
– Ein hitziger Bursche, Ihr Frantz, bemerkte der Bürgermeister in pedantischem Ton, ein sehr hitziger Kopf, Niklausse; Sie werden ihn gut im Auge behalten müssen.
– Nun, er liebt, van Tricasse; er liebt die reizende Suzel.
– Er soll sie ja auch bekommen, Niklausse; von dem Augenblick an, wo wir uns über die Heirat verständigt haben, steht ihrer Brautschaft nichts im Wege; was kann er mehr verlangen?
– Er verlangt auch nichts, van Tricasse; er verlangt durchaus gar nichts, der liebe Sohn.
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