Erzählungen
als alle Wesen, die sich Stück um Stück zu den höheren Stufen hochrappeln, zum Anfang der Entwicklungsleiter zurückzuschicken? …«
»Wie Ihr sagt!«
»Glücklicherweise ist Gardafur seiner Macht gerade für einige Zeit enthoben worden, weil er sie ausgenutzt hat …«
»Das ist wohl wahr«, antwortete Ratin. »Aber als der Prinz bei ihm um Unterstützung nachsuchte, war er noch im Vollbesitz seiner Zauberkraft. Und so hat er ihm, ebenso von den Versprechungen des Edelmannes verlockt wie durch dessen Drohungen verschreckt, versprochen, ihn für die Mißachtung durch die Familie Raton zu rächen!«
»Und hat er’s getan? …«
»Er hat es getan, gute Fee!«
»Und wie?«
»Er hat die braven Ratten verwandelt!«
»Verwandelt in was?«
»In Austern, die jetzt auf der Bank von Samobrives vor sich hinkümmern, wo die Weichtiere – von hervorragender Güte, muß ich dazu bemerken – drei Franken im Dutzend wert sind, was ganz natürlich ist, weil sich doch die Familie Raton unter ihnen befindet! Jetzt kennt Ihr, gute Fee, mein ganzes Unglück!«
Firmenta hörte diesem Bericht des jungen Ratin voller Mitleid und Wohlwollen zu. Sie nahm überhaupt gerne Anteil an menschlichen Leiden, und ganz besonders an gefährdeten Liebesverhältnissen.
»Was kann ich für Euch tun?« fragte sie.
»Gute Fee«, antwortete Ratin, »da meine Ratine an der Bank von Samobrives festklebt, macht mich doch auch zur Auster, damit ich den Trost habe, dort in ihrer Nähe leben zu können!«
Das wurde so traurig vorgebracht, daß die Fee ganz ergriffen war. Und so nahm sie die Hand des schönen Jünglings und sprach zu ihm:
»Ratin, selbst wenn ich bereit wäre, Euch diesen Wunsch zu erfüllen, würde es mir doch nicht gelingen. Ihr wißt, daß es mir verwehrt ist, die Lebewesen die Stufenleiter der menschlichen Entwicklung hinuntersteigen zu lassen! Wenn ich Euch nicht in das Weichtierstadium zurückversetzen kann – was doch ein recht demütigender Zustand ist –, so kann ich immerhin Ratine aufsteigen lassen …«
»Oh, macht das, gute Fee, macht das!«
»Aber sie muß die dazwischenliegenden Stadien durchlaufen, bevor sie wieder die bezaubernde Ratte wird, der es beschieden ist, einmal ein junges Mädchen zu sein. Seid also geduldig! Ordnet Euch den Naturgesetzen unter! Und habt Vertrauen …«
»In Euch, gute Fee? …«
»Ja, in mich! Ich werde alles tun, um Euch zu helfen. Vergessen wir dabei aber nicht, daß wir schreckliche Kämpfe auszustehen haben. Im Prinzen Kissador habt Ihr einen mächtigen Feind, mag er auch der einfältigste aller Prinzen sein. Und wenn Gardafur seine Macht wiedererlangen würde, ehe Ihr Gatte der schönen Ratine seid, würde es mir schwerfallen, ihn zu besiegen, denn dann wäre er mir wieder ebenbürtig!«
An diesem Punkt der Unterhaltung zwischen der Fee Firmenta und Ratin machte plötzlich eine dünne Stimme auf sich aufmerksam. Woher diese Stimme kam? Das schien schwer herauszufinden.
Und diese Stimme sagte:
»Ratin! … Mein armer Ratin … ich liebe dich! …«
»Das ist Ratines Stimme«, rief der schöne Jüngling aus.
»Ach, Frau Fee, habt Mitleid mit ihr!«
Wirklich, Ratin benahm sich wie ein Wahnsinniger. Er lief durch den Saal, sah unter die Möbel, öffnete die Anrichten, im Glauben, Ratine könne dort versteckt sein, und fand sie doch nicht!
Mit einer Geste gebot ihm die Fee einzuhalten.
Und da, meine lieben Kinder, geschah etwas Sonderbares. Auf dem Tisch lagen, in einer Silberschüssel angeordnet, ein halbes Dutzend Austern, die direkt von der Bank von Samobrives kamen. In ihrer Mitte befand sich die hübscheste mit ihrem schimmernden und wohlbesäumten Gehäuse. Und auf einmal wird sie größer, erweitert und entwickelt sich und öffnet schließlich ihre beiden Schalen. Aus den Falten der Halskrause macht sich ein anbetungswürdiges Gesichtchen frei, mit weizenblondem Haar, den zwei süßesten Äuglein der Welt, einem kleinen geraden Näschen und bezauberndem Mund, der immer wieder sagt:
»Ratin! … Mein lieber Ratin!«
»Das ist sie!« ruft der schöne Jüngling.
Ja, das war sie tatsächlich, er hatte Ratine wohl erkannt. Ihr müßt nämlich wissen, meine lieben Kinder, daß zu diesen glücklichen Zauberzeiten die Wesen schon ein menschliches Gesicht hatten, selbst bevor sie dem Menschengeschlecht angehörten.
Und wie hübsch Ratine unter dem Perlmutt ihrer Schale war! Wie ein Juwel in seinem Schmuckkästchen!
Und da begann sie zu sprechen:
»Ratin, mein
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