Erzählungen
stützte, nach Saint-Antoine, von wo der Blick über den Rücken von Cologny und den See hinschweift.
Bisweilen, an schönen klaren Vormittagen, konnte man von hier aus die gigantischen Pics des Mont-Buet am fernen Horizont erkennen. Gérande nannte ihrem Vater all diese Stätten, die in seiner Erinnerung fast erloschen waren, bei ihrem Namen; sein Gedächtniß schien sehr gelitten zu haben, und er empfand ein fast kindisches Vergnügen daran, sich all diese Benennungen wiederholen zu lassen. Dann stützte sich Meister Zacharins auf seine Tochter, neigte das weiße Haupt zu ihrem lieblichen blonden Köpfchen herab, und so gingen sie friedvoll zurück durch den hellen Morgen.
Endlich kam es dem alten Uhrmacher zum Bewußtsein, daß’ er nicht allein in der Welt stand, und wenn sein Blick auf der jungen, schönen Tochter ruhte, sagte er sich oft, daß er alt, gebrochen sei, und sie allein und ohne Stütze in der Welt zurückbleibe, wenn er seine Augen schlösse. Es hatte schon so mancher junge Gehilfe aus Genf um Gérande geworben, aber niemals erlangte einer von ihnen Zutritt in das stille, verborgene Haus, in dem die Familie des alten Uhrmachers lebte. So war es wohl sehr natürlich, daß in solcher Stunde des Sinnens über seiner Tochter Geschick die Gedanken des Alten auf Aubert Thün haften blieben, und als er im Stillen diese Wahl für sein Kind getroffen hatte, bemerkte er zu seiner Freude, daß die beiden jungen Leute in ähnlichen Ideen und einem festen Glauben an einander groß geworden waren; die Oscillationen ihres Herzens schienen ihm, wie er gegen Scholastica äußerte, »isochron«.
Die Magd war hiervon entzückt, und obgleich sie die Bedeutung des Wortes natürlich nicht erfaßte, schwur sie bei ihrer Schutzpatronin, daß die ganze Stadt des alten Meisters Aeußerung gehört haben solle, noch ehe eine Stunde vergangen sei. Meister Zacharins hatte viel Mühe, sie zu beruhigen, und erlangte endlich von ihr das Versprechen, über diese Mittheilung Schweigen zu beobachten; er wußte jedoch zum Voraus, daß Scholastica derartige Zusicherungen niemals zu halten pflegte.
So war es gekommen, daß man in ganz Genf von einer Verbindung Aubert’s und Gérande’s sprach, noch ehe die Hauptbetheiligten etwas davon wußten. Zuweilen aber ereignete es sich, daß bei den Unterhaltungen über diesen Gegenstand plötzlich die höhnischen Worte ertönten:
»Gérande wird Aubert nicht heiraten«; und wenn die Redenden sich dann verwundert umschauten, erblickten sie einen kleinen Greis, der den Bewohnern der Stadt gänzlich unbekannt war.
Niemand hätte sagen können, wie alt das sonderbare Geschöpf sei; man konnte sich allenfalls denken, daß er seit langer, langer Zeit schon auf dieser Welt wandeln müsse, aber damit hatten auch die Vermuthungen ein Ende. Sein dicker, plattgedrückter Kopf ruhte auf Schultern, die breiter waren, als sein kleiner Körper hoch war. Die wunderliche Gestalt hätte gut zu dem Träger einer Stutzuhr gepaßt, denn für das Zifferblatt wäre genügender Raum auf seinem Gesicht gewesen, und der Pendel hätte ohne Beschränkung in der ungeheuren Brust hin und her gehen können. Seine Nase war so dünn und spitz, wie der Zeiger an einer Sonnenuhr, und die weit aus einander stehenden, sonderbar geformten Zähne glichen den Häkchen eines Rades und knirschten hin und wieder unheimlich in seinem Munde. Sprach er, so glaubte man den metallischen Ton eines Uhren-Schlagwerks zu hören, und sein Herz schlug so laut und eigenthümlich, daß man sein Klopfen für das Tick-Tack einer Wanduhr halten konnte. Der kleine Mann ging immer nur ruckweise, ohne sich jemals umzuwenden, seine Arme bewegten sich wie Weiser auf einem Zifferblatt, und wenn man ihm folgte, bemerkte man, daß er in jeder Glockenstunde eine Stunde Wegs zurücklegte, und daß sein Gang ein fast kreisförmiger war.
Dieses wunderbare Wesen irrte, oder drehte sich vielmehr schon seit einiger Zeit in der Stadt umher, und man hatte beobachten können, daß er täglich, in dem Augenblick, wenn die Sonne durch den Meridian ging, vor der St. Peterskirche stehen blieb und erst, wenn die Uhr zwölf geschlagen hatte, seinen Weg fortsetzte. Von diesem Augenblick an schien er bei allen Unterhaltungen aufzutauchen, in denen der alte Uhrmacher erwähnt wurde, und man fragte sich mit unwillkürlichem Grauen, welche Beziehung zwischen ihm und Meister Zacharius bestehen könne; denn auch während der Greis mit seiner Tochter spazieren ging, ließ er
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