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Erzählungen

Erzählungen

Titel: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Glauser
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zwölf Jahre jünger als ich, ich war wie ein älterer Bruder zu ihm, ich habe ihn bei mir aufgenommen, ich habe ihn aus der peinlichsten Situation gerettet, und wie hat er mir gedankt? Haben Sie die Dame bemerkt, mit der ich getanzt habe? Es war meine Frau ... Das täuscht, sie ist gar nicht sovieljünger als ich, obwohl sie so aussieht. Sie versteht es eben, sich zu schminken, herzurichten. Sie haben wohl bemerkt, wie begehrt sie war, nur einmal habe ich mit ihr tanzen können, sonst waren all ihre Tänze versprochen. Ja, es war meine Frau, sie heisst Emilie mit dem Vornamen, aber ich nenne sie immer Mowgli, das hat sich so gegeben mit der Zeit. Der Name stammt ja nicht von mir. So heisst ein Junge in einem Buch des englischen Dichters Kipling, von dem Sie wahrscheinlich auch nie etwas gehört haben ...
    Soll das Hohn sein, junger Mann? Sie spotten über meine Belesenheit ... Gut, ich will Ihnen glauben, Sie haben das nicht gemeint, ich will es gerne glauben, ich glaube Ihnen alles, was Sie sagen. Sie werden einen Unglücklichen nicht anlügen. Wie habe ich gesagt? Einen Unglücklichen? Ich bin gar nicht unglücklich, Herr, es ist freundlich von Ihnen, dass Sie eine bedauernde Miene ziehen, ich brauche Ihr Bedauern nicht. Ich bin vollkommen glücklich, ich führe die harmonischste Ehe, die Sie sich denken können, wir sind ein Herz und eine Seele, meine Frau und ich ... Ja, wenngleich sie heute nicht bei mir geblieben ist, sie ist heimgegangen, sie war müde und hatte Kopfweh, Freunde von uns, eine bekannte Familie, der Mann ist Sekundarlehrer, ich sage Ihnen, ein bedeutender Kopf ... ja, mit diesem Sekundarlehrer und seiner Frau (die Frau ist ein wenig klatschsüchtig, aber das schadet nichts, eine ausgezeichnete Hausfrau ist sie und sparsam, sparsamer als ...), also dieses Ehepaar hat sich anerboten, meine Frau heimzubegleiten. Ich wollte noch ein wenig bleiben. In Ruhe ein Glas Wein trinken, in angenehmer Gesellschaft. Und die habe ich ja gefunden. Ich hätte nie gedacht, dass ich einen so sympathischen Kumpan finden würde, ich hätte nie gedacht, dass wir uns so gut verstehen würden, damals als ich bemerkte, dass Sie mich auslachten. Aber sehen Sie, das ist eben der springende Punkt. Ich schmeichle mir, ein Menschenkenner zu sein. Ich habe sofort gesehen, dass Sie tiefer veranlagt sind. Mich täuscht man nicht so leicht. Und ich habe Sie durchschaut, vom ersten Augenblick an, als Sieim Kreise Ihrer Dämchen ... Nun, genug davon, ich will Sie nicht beleidigen. Sie gefallen mir, junger Mann, Sie sind ein aufmerksamer Zuhörer, ermüde ich Sie nicht mit meinem Geschwätz? Gut, ich danke Ihnen ... Aber dann müssen Sie mir gestatten, mir, als dem Älteren ... darf ich Ihnen das »Du« anbieten? Wollen wir Schmollis trinken? Nach alter Väter Sitte, haha. Wie heissen Sie mit dem Vornamen? ... Waaas ... Da hört doch alles auf. Wirklich Peter? ... So hiess er nämlich auch, der Doppelgänger, wir nannten ihn Pit ... So nennt man Sie auch? Zeichen und Wunder! ... Nun, prost Pit, sollst leben! Aber Ex ... Ich heisse Hans. So, Pit, das wäre erledigt, deine Hand ...
    Lass nur, Pit, lass nur. Es geht vorbei. Ich bin sonst nicht sentimental, aber manchmal überkommt es mich. Weisst du, was mir in diesem Moment, den wir wohl als erhebend qualifizieren können, weisst du, was mir in diesem Momente einfällt? Eine andere Szene, aber eine Szene gleicher Art. Und du hast genau das gleiche Gesicht gemacht wie dein Doppelgänger, als ich ihm das »Du« antrug. Jaja, Ihr gleicht Euch sogar in der Mimik. Ist das nicht merkwürdig? ...
    Es war am Weihnachtsabend, vor ... wart einmal, ... vor zehn? ... nein vor zwölf Jahren ... Jaja, man wird alt ... Da hatte ich ihm das Du angetragen. Und er zog genau das gleiche verlegene Maul wie du. Aber wir tranken unsere Gläser aus, mit verschlungenen Armen, wie es sich gehört, und nachher war er sehr rot, dein Bruder Pit ... Prost, junger Pit, sollst leben ... Und dann wollte auch Mowgli mit ihm Schmollis trinken, natürlich, warum nicht. Da weigerte er sich zuerst. Der dumme Kerl! Als ob ich nicht gemerkt hätte, schon lange gemerkt hätte, dass sie sich duzten, meine Frau und Pit. Was ging das mich an? Nun, gewiss, es tat manchmal weh, wenn ich aus dem Büro heimkam, und die beiden hockten im Wohnzimmer, und wenn ich in der Türe erschien, da lastete plötzlich ein Schweigen über dem Zimmer ... Ich machte gewöhnlich recht laut die Korridortüre auf, dass man nur ja nicht etwameine,

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