Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Aleksandr Iwanowitschs Liege stand.
Aleksandr Iwanowitsch goss mir einen Zuber Wasser aus dem Fass ein, aber ich war über viele Jahre an symbolisches Baden gewöhnt, an den übersparsamen Verbrauch von Wasser, das im Sommer aus ausgetrockneten Bächen gewonnen und im Winter aus Schnee geschmolzen wird. Ich wusste mich mit jeder beliebigen Menge Wasser zu waschen – vom Teelöffel bis zur Zisterne. Sogar mit einem Teelöffel Wasser, ich hätte mir die Augen gewaschen – und Schluss. Aber hier gab es keinen Löffel, sondern einen ganzen Zuber.
Scheren brauchte man mich nicht, ich war mit dem Maschinchen ordentlich geschoren, vom ehemaligen Oberst des Generalstabs, dem Friseur Rudenko.
Das Wasser, das symbolische Krankenhauswasser, war natürlich kalt. Aber nicht eisig, wie im Sommer und Winter alles Wasser an der Kolyma. Und das war auch nicht wichtig. Selbst kochendes Wasser hätte meinen Körper nicht gewärmt. Und wenn man mir eine Kelle kochenden Höllenteer über die Haut gegossen hätte – die Höllenhitze hätte das Innerste nicht gewärmt. An die Verbrennungen hatte ich selbst in der Hölle gar nicht gedacht, als ich mich in der Goldgrube des Bergwerks »Partisan« mit dem nackten Bauch ans heiße Boilerrohr drückte. Das war im Winter 1938 gewesen – vor tausend Jahren. Seit dem »Partisan« bin ich unempfindlich gegen den Höllenteer. Aber in »Belitschja« wurde auch kein Höllenteer benutzt. Der Zuber mit kaltem Wasser konnte vom Anschauen oder vielmehr vom Anfühlen, nach Meinung von Aleksandr Iwanowitschs Finger, heiß oder warm gar nicht sein. Nicht eisig – und das reicht völlig aus, nach Meinung von Aleksandr Iwanowitsch. Und mir war das alles schon vollkommen gleichgültig, nach der Meinung meines eigenen Köpers – und der Körper ist ernster und kapriziöser als die menschliche Seele, der Körper hat mehr moralische Qualitäten, Rechte und Pflichten.
Vor meiner Waschung rasierte mir Aleksandr Iwanowitsch mit dem Rasierapparat eigenhändig den Schamhügel, ging um die Achselhöhlen herum und führte mich, eingekleidet in geflickte, aber saubere alte Krankenhauswäsche, ins Kabinett des Arztes; das Kabinett war innerhalb derselben Segeltuchwände vom Zelt abgeteilt.
Der Segeltuchvorhang wurde zurückgeschlagen, und auf der Schwelle erschien ein Engel im weißen Kittel. Unter den Kittel hatte er eine Weste gezogen. Der Engel trug wattierte Hosen, und über dem Kittel einen getragenen, altgedienten, aber durchaus soliden Halbpelz.
Die Juninächte spaßen weder mit den Freien noch mit den Häftlingen, weder mit den pridurki noch mit den Arbeitern. Von den
dochodjagi
ganz zu schweigen. Die
dochodjagi
haben einfach die Grenze von Gut und Böse, von Warm und Kalt überschritten.
Das war der diensthabende Arzt, Doktor Lebedew. Lebedew war kein Arzt und kein Doktor, noch nicht einmal Feldscher, sondern einfach ein Mittelschullehrer für Geschichte – ein bekanntlich feuergefährlicher Beruf.
Als ehemaliger Kranker praktizierte er nun als Feldscher. Die Anrede »Doktor« machte ihn schon lange nicht mehr verlegen. Übrigens war er ein gutmütiger Mensch, er denunzierte in Maßen, und vielleicht denunzierte er auch gar nicht. Jedenfalls nahm Doktor Lebedew an den Intrigen, die jede Krankenhauseinrichtung zerriss – und »Belitschja« war keine Ausnahme – nicht teil, er verstand, dass jeder Übereifer ihn nicht nur die medizinische Karriere, sondern auch das Leben kosten konnte.
Mich empfing er gleichgültig, ohne jedes Interesse füllte er die »Krankengeschichte« aus. Ich aber war verblüfft. Mein Name wird in schöner Handschrift in ein echtes Formular der Krankengeschichte geschrieben, kein gesetztes, kein gedrucktes zwar, aber von geschickter Hand akkurat liniert.
Das Formular war authentischer als das Gespenstische, Phantastische der weißen Nacht an der Kolyma und das Segeltuchzelt mit zweihundert Häftlingsliegen. Das Zelt, aus dem durch das Segeltuch der mir so bekannte nächtliche Lärm der Häftlingsbaracken von der Kolyma herüberdrang.
Der Mann im weißen Kittel schrieb, stieß verbissen die Schülerfeder in das standsichere Tintenfass und griff nicht zum schönen Tintenzeug, das im Zentrum des Tischs vor ihm stand, der Bastelarbeit eines Häftlings aus dem Krankenhaus: ein geschnitzter Ast, die Gabelung einer drei- oder dreitausendjährigen Lärche, einer Zeitgenossin irgendeines Ramses oder Asarhaddon – ich hatte keine Möglichkeit, ihr Alter zu bestimmen, die Jahresringe
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