Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
geteilt hatte, vorwurfsvoll, dass er einfach nicht versteht, wie sich Menschen in einen Zustand bringen können, dass man sie schlägt, und empörte sich über meinen Einspruch. Aber es verging kein Jahr, bis ich Poljanskij traf – als
dochodjaga
, als Docht , als Sammler von Kippen, der danach gierte, für eine Suppe vor der Nacht irgendwelchen Ganovenpaten die Fersen zu kraulen.
Poljanskij war ehrlich. Eine geheime Qual peinigte ihn – so stark, akut und unentrinnbar, dass sie das Eis und den Tod, die Gleichgültigkeit und die Schläge, den Hunger, die Schlaflosigkeit und die Angst durchdringen konnte.
Irgendwann kam ein Feiertag, wir wurden zu den Feiertagen eingesperrt – das nannte sich Feiertagsisolation –, und es gab Leute, die einander eben in dieser Isolation begegneten, sich kennenlernten, einander zu vertrauen begannen. Wie schrecklich, wie erniedrigend diese Isolation auch war, für die achtundfünfziger Häftlinge war sie leichter als die Arbeit. Denn die Isolation war eine Erholungspause, wenn auch nur für einen Moment, und wer hätte sich damals ausgekannt, ob wir eine Minute oder einen Tag, ein Jahr oder ein Jahrhundert gebraucht hätten, um in unseren früheren Körper zurückzukehren – damit, in unsere frühere Seele zurückzukehren, rechneten wir schon nicht mehr. Und natürlich kehrten wir nicht zurück. Niemand kehrte zurück. Also, Poljanskij war ehrlich, mein Pritschennachbar am Isolationstag.
»Ich wollte dich schon lange eine Sache fragen.«
»Was denn für eine Sache?«
»Als ich dir vor einigen Monaten zusah, wie du läufst, wie du über kein Stämmchen steigen kannst auf deinem Weg und das Stämmchen umgehen musst, über das jeder Hund steigt. Wenn du mit den Füßen über die Steine schlurfst und dir eine kleine Unebenheit, ein winziges Hügelchen auf dem Weg als unüberwindliches Hindernis vorkommt, das Herzklopfen und Atemlosigkeit erzeugt und eine lange Erholungspause nötig macht, ich sah dir zu und dachte – so ein Faulenzer, so ein Drückeberger, ein erfahrenes Aas, ein Simulant.«
»Aha? Und dann hast du begriffen?«
»Dann habe ich begriffen. Habe ich begriffen. Als ich selbst schwächer wurde. Als mich plötzlich alle schubsten und schlugen, es gibt ja für den Menschen keine schönere Empfindung, als zu erleben, dass ein anderer noch schwächer ist, noch schlimmer dran.«
»Warum lädt man die Stoßarbeiter zu Besprechungen ein, warum ist physische Stärke ein moralisches Maß? Physisch stärker bedeutet besser, moralischer, sittlicher als ich. Natürlich – er kann einen Batzen von zehn Pud heben, und ich krümme mich unter einem Stein von einem halben Pud.«
»Ich habe das alles begriffen und will es dir sagen.«
»Danke, das hast du schon.«
Bald war Poljanskij tot – er fiel irgendwo in der Grube um. Der Brigadier hatte ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Brigadier war nicht Grischka Logun, sondern einer von uns, Firsow, ein Militär, Artikel achtundfünzig.
Ich erinnere mich gut, wie ich das erste Mal geschlagen wurde. An die erste von Hunderttausenden Backpfeifen, jeden Tag, jede Nacht.
Man merkt sich nicht sämtliche Backpfeifen, aber an den ersten Schlag erinnere ich mich gut – ich war sogar darauf vorbereitet durch das Verhalten von Grischka Logun und Wawilows Demut.
Unter Hunger und Kälte und einem vierzehnstündigen Arbeitstag im weißen Frostnebel der felsigen Goldgrube blitzte plötzlich etwas anderes auf, ein Glück, ein im Vorübergehen zugesteckter Almosen – ein Almosen nicht in Brot, nicht in Arznei, sondern ein Almosen in Zeit, als Erholungspause zu ungewohnter Zeit.
Bergwerksaufseher, Vorarbeiter in unserem Abschnitt war Sujew – ein Freier, ehemaliger Häftling, der das Lager am eigenen Leib erlebt hatte.
Irgendetwas war in Sujews schwarzen Augen – vielleicht der Ausdruck eines Mitgefühls für das bittere menschliche Schicksal.
Macht bedeutet Zerstörung. Das von der Kette gelassene wilde Tier, das sich in der menschlichen Seele verbirgt, sucht die gierige Befriedigung seines ewigen menschlichen Wesens im Schlagen, im Morden.
Ich weiß nicht, ob man Vergnügen finden kann im Unterzeichnen eines Erschießungsurteils. Wahrscheinlich gibt es auch da einen finsteren Genuss, eine Phantasie, die nicht nach Rechtfertigungen sucht.
Ich habe Leute gesehen, viele Leute, die schon befohlen haben, jemanden zu erschießen – und jetzt werden sie plötzlich selbst umgebracht. Nichts, außer Feigheit, außer dem Geschrei:
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