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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sterben.
    Der modernistische Maler Anti, ein Este, Verehrer von Čiurlionis , sprach Estnisch und Russisch. Der Arzt ohne Diplom Draudvilas, ein Litauer, Student im fünften Kurs und Mickiewicz -Liebhaber, sprach Litauisch und Russisch. Der Student im zweiten Kurs der Medizinischen Fakultät Garleis sprach Lettisch und Russisch.
    Den Selbstmord vereinbarten alle drei Balten auf Russisch.
    Anti, der Este, war der Kopf und der Wille der baltischen Hekatombe .
    Aber wie?
    Brauchen sie Briefe? Testamente? Nein. Anti war gegen Briefe, und Garleis genauso. Draudvilas war »dafür«, aber die Freunde überzeugten ihn davon, dass, wenn der Versuch misslingt, die Briefe ein Anklagepunkt, eine Komplikation sein werden, die im Verhör erklärt werden müssen.
    Sie beschlossen, keine Briefe zu hinterlassen.
    Alle drei standen längst auf jenen Listen, und alle wussten: Sie erwartet das Nummernlager, das Sonderlager. Alle drei hatten beschlossen, das Schicksal nicht länger herauszufordern. Draudvilas als Arzt hatte nichts zu fürchten im Sonderlager. Aber der Litauer erinnerte sich, wie schwer es für ihn war, schon in einem normalen Lager eine medizinische Arbeit zu bekommen. Es musste ein Wunder geschehen. Genauso dachte auch Garleis, und der Maler Anti verstand, dass seine Kunst noch schlechter war als die Kunst des Schauspielers und Sängers und sicher nicht gebraucht würde im Lager, so wenig wie sie bislang gebraucht wurde.
    Die erste Art sich das Leben zu nehmen war, sich in die Kugeln der Begleitposten zu stürzen. Aber das heißt Verwundungen, Schläge. Wen erschießen sie dort sofort? Die Lagerschützen sind wie die Soldaten von König George aus Bernard Shaws Stück »Der Teufelsschüler« und können ihr Ziel verfehlen. Auf die Begleitposten war nicht zu hoffen, und diese Variante entfiel.
    Sich im Fluss ertränken? Die Kolyma ist ganz nah, aber jetzt ist Winter, und wo findet man ein Loch, um den Körper durchzuzwängen? Das Dreimetereis verschließt Eislöcher fast augenblicklich. Einen Strick zu finden ist leicht. Eine sichere Methode. Aber wo soll sich der Selbstmörder erhängen – bei der Arbeit, in der Baracke? Es gibt keinen solchen Ort. Man wird ihn retten und seinen Ruf für immer verderben.
    Sich erschießen? Die Häftlinge haben keine Waffe. Den Begleitposten überfallen ist noch schlimmer, als vor dem Begleitposten fliehen – eine Qual und nicht der Tod.
    Sich die Pulsadern aufschneiden wie Petronius ist schon ganz unmöglich. Man braucht warmes Wasser und eine Badewanne, sonst bleibt man Invalide mit gekrümmter Hand – Invalide, wenn man sich der Natur und dem eigenen Körper anvertraut.
    Nur das Gift – der Schierlingsbecher, das ist eine sichere Methode.
    Aber was wird als Schierling dienen? Denn Caliumcyanid bekommt man nicht. Doch im Krankenhaus, in der Apotheke werden ja Gifte gelagert. Das Gift geht gegen die Krankheit an, es vernichtet das Kranke und gibt dem Leben Platz.
    Ja, nur das Gift. Nur der Schierlingsbecher – Sokrates’ Todespokal.
    Der Schierling fand sich, und Draudvilas und Garleis verbürgten sich für seine zuverlässige Wirkung.
    Das ist Phenol. Karbolsäurelösung. Ein sehr starkes Antiseptikum, von dem immer ein Vorrat im Schränkchen jener chirurgischen Abteilung steht, in der Draudvilas und Garleis arbeiten.
    Draudvilas zeigte diese famose Flasche Anti, dem Esten.
    »Wie Kognak«, sagte Anti.
    »So ähnlich.«
    »Ich mache ein Etikett, ›Drei Sterne‹.«
    Das Sonderlager holt sich seine Opfer einmal im Quartal. Man veranstaltet einfach eine Razzia, denn selbst in einer Einrichtung wie dem Zentralkrankenhaus gibt es Orte, an die man sich »verdrücken«, an denen man das Gewitter überleben kann. Aber wenn du nicht in der Lage bist, dich zu verdrücken, musst du dich anziehen, deine Sachen packen, deine Schulden bezahlen, dich auf die Bank setzen und geduldig abwarten, ob die Decke über dem Kopf der Angereisten einstürzt oder, in der anderen Variante, über deinem eigenen. Du musst demütig warten, ob der Krankenhauschef dich behält – ob der Chef von den Käufern die Ware erbittet, die er braucht und die dem Käufer gleichgültig ist.
    Die Stunde oder der Tag ist da, und es stellt sich heraus, dass niemand dich retten und schützen kann, du bist noch immer auf den Listen »in die Etappe«.
    Dann kommt die Zeit des Schierlings.
    Anti nahm aus Draudvilas’ Händen die Flasche und klebte das Kognaketikett darauf, denn Anti musste realistischer Künstler sein und

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