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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Zimmer saubermacht, die Aufgaben eines praktizierenden Feldschers zu erfüllen. Das ist auch in Freiheit nicht verboten, und im Lager eröffnet es große Perspektiven. Feldschererfahrung ist leichte Erfahrung, und für die Leute ist es beim ewigen Mangel an medizinischen Kadern im Lager ein sicheres Stück Brot.
    Jampolskij hatte Mittelschulbildung, darum schnappte er aus den Erklärungen des Arztes einiges auf.
    Das Praktizieren unter Anleitung des Arztes – nicht eines, sondern mehrerer, denn Jampolskijs medizinische Chefs wechselten –, vergrößerte auch das Wissen, und vor allem wuchs Jampolskijs Selbstvertrauen. Das war kein reines Feldscherselbstvertrauen – bekanntlich wissen sie insgeheim, dass die Kranken keinen Puls haben, trotzdem befühlen sie den Arm, zählen, vergleichen mit der Uhr –, ein Selbstvertrauen, das schon längst Anekdote geworden ist.
    Jampolskij war klüger. Er arbeitete schon mehrere Jahre als Feldscher und verstand, dass ihm das Phonendoskop beim Abhören keinerlei Geheimnisse verrät, wenn ihm das medizinische Wissen fehlt.
    Die Feldscherkarriere während der Haft ließ Jampolskij die Haftzeit ruhig überleben und sie wohlbehalten beschließen. Und hier nun, an einem wichtigen Scheideweg, entwarf Jampolskij für sich einen durchaus gefahrlosen, juristisch abgesicherten Lebensplan.
    Jampolskij beschloss, nach der Haftzeit in der Medizin zu bleiben. Doch nicht, um eine ärztliche Ausbildung zu machen, sondern um auf die Kaderlisten eben der Mediziner zu kommen und nicht der Buchhalter oder Agronomen.
    Jampolskij, als ehemaligem
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, stand kein Zuschlag zu, aber er dachte auch nicht an den schnellen Rubel.
    Der schnelle Rubel war ihm schon durch den ärztlichen Satz gesichert.
    Doch wenn der praktizierende Feldscher unter Anleitung eines Arztes als Feldscher arbeiten kann, wer wird dann den Arzt bei der ärztlichen Arbeit anleiten?
    Im Lager, an der Kolyma und überall sonst, gibt es die Verwaltungstätigkeit eines Chefs der Sanitätsabteilung. Weil 90% der ärztlichen Arbeit aus Schreiberei besteht, soll diese Tätigkeit im Prinzip den Spezialisten Zeit freihalten. Das ist eine Verwaltungs-, eine Kanzleistelle. Wenn ein Arzt sie innehat – gut, doch wenn er kein Arzt ist, ist es auch nicht schlimm, sofern er tatkräftig ist und etwas von Organisation versteht.
    Das gilt für alle Krankenhauschefs und Chefs der Sanitätsabteilungen – sie sind Sanitätsärzte, manchmal auch einfach Krankenhauschefs. Ihre Sätze sind höher als die eines Arztes und Spezialisten.
    Und diese Tätigkeit strebte Jampolskij auch an.
    Behandeln konnte er nicht, dazu war er nicht fähig. An Kühnheit mangelte es ihm nicht. Er trat einige ärztliche Stellen an, wurde aber jedes Mal auf die Position eines Chefs der Sanitätsabteilung, eines Verwalters abgedrängt. Auf dieser Stelle war er gegen jede Revision gefeit.
    Die Sterblichkeit ist hoch. Nun ja! Man bräuchte einen Spezialisten. Den Spezialisten hat man nicht. Also muss man Doktor Jampolskij an seinem Platz lassen.
    Allmählich, von Stelle zu Stelle, sammelte Jampolskij unweigerlich auch ärztliche Erfahrung, und vor allem lernte er die Kunst, zur rechten Zeit zu schweigen, und die Kunst, zur rechten Zeit eine Anzeige zu schreiben, zu informieren.
    All das wäre nicht übel gewesen, wenn nicht zugleich Jampolskijs Hass auf alle
dochodjagi
gewachsen wäre und auf die
dochodjagi
aus der Intelligenz im Besonderen. Nicht anders als die gesamte Lagerleitung an der Kolyma sah Jampolskij in jedem
dochodjaga
einen Drückeberger oder Volksfeind.
    Und weil er den Menschen nicht verstand und ihm nicht glauben wollte, übernahm Jampolskij die große Verantwortung, die auf Grund Gelaufenen in die Lageröfen der Kolyma – das heißt in 60 Grad Frost – zu schicken und in diesen Öfen sterben zu lassen. Kühn übernahm Jampolskij seinen Teil der Verantwortung, er unterschrieb die von der Leitung vorbereiteten Todesurkunden, schrieb diese Urkunden sogar selbst.
    Zum ersten Mal traf ich Doktor Jampolskij im Bergwerk »Spokojnyj«. Nachdem er die Kranken befragt hatte, wählte mich der Doktor im weißen Kittel und mit dem Phonendoskop über der Schulter für die Sanitäterstelle aus – Fieber messen, die Krankensäle saubermachen, die Schwerkranken pflegen.
    All das konnte ich schon dank meiner Erfahrung in »Belitschja«, dem Anfang meines mühsamen medizinischen Wegs. »Auf Grund gelaufen«, mit Pellagra ins Kreiskrankenhaus des Nordens gebracht und überraschend

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