Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
seine modernistischen Neigungen auf dem Grund seiner Seele verstecken.
Die letzte Arbeit des Čiurlionis-Verehrers war das Etikett »Drei Sterne« – eine rein realistische Darstellung. So gab sich Anti im letzten Moment dem Realismus geschlagen. Der Realismus erwies sich als wertvoller.
»Und warum drei Sterne?«
»Drei Sterne – das sind wir drei, eine Allegorie, ein Symbol.«
»Und was hast du diese Allegorie so naturalistisch dargestellt?«, scherzte Draudvilas.
»Wenn sie hereinkommen, wenn sie uns schnappen, erklären wir – wir trinken Kognak zum Abschied, jeder ein Konservenglas.«
»Das ist klug.«
Und tatsächlich, sie kamen herein, aber schnappten sie nicht. Anti konnte die Flasche in den Apothekenschrank stellen und holte sie heraus, sobald der eingetretene Wachmann wieder gegangen war.
Anti goss das Phenol in die Becher.
»Also, auf eure Gesundheit!«
Anti trank, auch Draudvilas trank. Garleis nippte, aber schluckte nicht, sondern spuckte aus, und über die Körper der Hingefallenen gelangte er zur Wasserleitung und spülte seinen verbrannten Mund mit Wasser. Draudvilas und Anti krümmten sich und röchelten. Garleis versuchte zu überlegen, was er sagen soll in der Untersuchung.
Zwei Monate lag Garleis im Krankenhaus – die verbrannte Kehle wurde wieder hergestellt. Viele Jahre später war Garleis auf der Durchreise bei mir in Moskau. Er versicherte mir unter Eid, dass der Selbstmord ein tragischer Fehler war, dass der Kognak »Drei Sterne« echt war, dass Anti die Flasche mit dem Kognak im Apothekenschrank verwechselt und die ähnliche Flasche mit dem Phenol, mit dem Tod herausgeholt hatte.
Die Untersuchung zog sich lange hin, aber Garleis wurde nicht verurteilt, er wurde freigesprochen. Die Flasche mit dem Kognak wurde niemals gefunden. Schwer zu sagen, wer sie als Prämie bekommen hat, falls sie existierte. Der Untersuchungsführer hatte nichts gegen Garleis’ Version, wozu sich quälen, um ein Geständnis, ein Bekenntnis und so weiter zu bekommen. Garleis hatte der Untersuchung einen vernünftigen und logischen Ausweg angeboten. Draudvilas und Anti, die Organisatoren der baltischen Hekatombe, haben niemals erfahren, ob man viel oder wenig über sie sprach. Man sprach viel über sie.
Seine medizinische Fachrichtung hatte Garleis in dieser Zeit gewechselt, sich spezialisiert. Er war Zahnprothesist, hatte sich dieses einträgliche Handwerk angeeignet.
Garleis war bei mir, um juristischen Rat zu suchen. Er hatte nicht die Genehmigung bekommen, sich in Moskau anzumelden. Man genehmigte ihm nur Riga, die Heimat seiner Frau. Garleis’ Frau war ebenfalls Ärztin, eine Moskauerin. Garleis hatte, als er die Eingabe über die Rehabilitierung machte, sich den Rat eines seiner Freunde von der Kolyma erbeten, dem er ausführlich seine ganze lettische Jugendaffäre erzählte, von den Pfadfindern und noch irgendetwas.
»Ich habe ihn um Rat gefragt, habe gefragt, soll ich alles schreiben? Und mein bester Freund sagte: ›Schreib die ganze Wahrheit. Alles so, wie es war.‹ Das habe ich getan und bekam keine Rehabilitation. Ich bekam nur die Genehmigung, in Riga zu wohnen. Wie er mich hereingelegt hat, mein bester Freund …«
»Er hat Sie nicht hereingelegt, Garleis. Sie brauchten einen Rat in einer Sache, in der man nicht raten kann. Was hätten Sie bei jeder anderen Antwort getan? Ihr Freund konnte denken, dass Sie ein Spion sind, ein Zuträger. Und wenn Sie kein Zuträger sind, warum soll er ein Risiko eingehen. Sie haben die einzige Antwort bekommen, die man auf Ihre Frage geben kann. Ein fremdes Geheimnis ist viel schwerer als ein eigenes.«
1973
Doktor Jampolskij
In meinen Erinnerungen aus der Kriegszeit wird oft der Name Doktor Jampolskij auftauchen. Das Schicksal hat uns während des Kriegs mehrmals in Strafabschnitten der Kolyma zusammengeführt. Nach dem Krieg, nach Abschluss des medizinischen Lehrgangs in Magadan 1946 arbeitete ich selbst als Feldscher und hatte mit der Tätigkeit Doktor Jampolskijs als praktizierendem Arzt und Chef der Sanitätsabteilung des Bergwerks nichts mehr zu tun.
Doktor Jampolskij war kein Doktor und kein Arzt. Moskauer, verurteilt nach irgendeinem Sozial-Artikel, begriff Jampolskij in der Haft schnell, welche Stabilität eine medizinische Ausbildung verleiht. Aber die Zeit, um eine ärztliche oder wenigstens Feldscherausbildung zu bekommen, hatte Jampolskij nicht.
Es gelang ihm, vom Krankenbett aus, als Sanitäter, der den Kranken Fieber misst und die
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