Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Finger, den Gerechten zu rühmen, ehe nicht der Halunke genannt ist. Nach dieser keineswegs lyrischen, sondern notwendigen Abschweifung kehre ich zur Erzählung über Jampolskij zurück.
Als ich aus dem Untersuchungsisolator nach »Spokojnyj« zurückkam, waren mir natürlich alle Türen in die Sanitätsabteilung verschlossen, hatte ich mein Soll an Aufmerksamkeit schon bis zum Grund erschöpft, und als mich Doktor Jampolskij in der Zone traf, drehte er den Kopf weg, als hätte er mich nie zuvor gesehen.
Aber Doktor Jampolskij hatte schon vor unserer Begegnung in der Zone einen Brief bekommen, einen Brief von der freien Chefin des Kreiskrankenhauses Doktor Sawojewa, Vertragsarbeiterin und Parteimitglied, in dem Sawojewa bat, mir zu helfen – Lesnjak hatte ihr von meiner Lage berichtet –, mich einfach als Kranken ins Kreiskrankenhaus zu schicken. Krank war ich tatsächlich.
Diesen Brief hatte irgendein Arzt nach »Spokojnyj« mitgebracht.
Doktor Jampolskij gab Sawojewas Brief, ohne mich zu rufen und mir etwas zu sagen, an den Chef des Lagerpunkts, Jemeljanow. Das heißt, er zeigte Sawojewa an.
Als ich mich, ebenfalls informiert von diesem Brief, Jampolskij im Lager in den Weg stellte und, natürlich in den ehrerbietigsten Worten, wie es mir die Lagererfahrung eingab, nach dem Schicksal dieses Briefes fragte, sagte Jampolskij, er habe den Brief übergeben, dem Chef des Lagerpunkts ausgehändigt, und ich solle mich dorthin wenden und nicht an die Sanitätsabteilung und ihn, Jampolskij.
Ich wartete nicht lange und meldete mich bei Jemeljanow an. Der Chef des Lagerpunkts kannte mich auch ein wenig persönlich – wir waren gemeinsam durch den Schneesturm gelaufen, um dieses Bergwerk zu eröffnen – waren durchmarschiert –, der Wind warf alle um, Freie und Häftlinge, Chefs und Arbeiter. Er erinnerte sich natürlich nicht an mich, nahm aber den Brief der Oberärztin als vollkommen normale Bitte.
»Wir schicken dich, wir schicken dich.«
Und ein paar Tage später kam ich nach »Belitschja« – über die Waldaußenstelle des Lagerpunkts Jagodnoje, in der ein gewisser Efa Feldscher war, ebenfalls ein Praktiker, wie fast alle Feldscher an der Kolyma. Efa war bereit, Lesnjak von meiner Ankunft zu benachrichtigen. »Belitschja« lag sechs Kilometer von Jagodnoje. Am selben Abend kam ein Fahrzeug aus Jagodnoje, und ich kam zum dritten und letzten Mal ins Nördliche Kreiskrankenhaus – dasselbe, in dem man mir vor einem Jahr für die Krankengeschichte die Handschuhe von den Händen abgenommen hatte.
Hier arbeitete ich als Kulturorganisator, ganz offiziell, falls es an der Kolyma irgendetwas Offizielles gibt. Hier las ich den Kranken bis zum Ende des Kriegs, bis zum Frühjahr fünfundvierzig aus der Zeitung vor. Im Frühjahr fünfundvierzig wurde die Oberärztin Sawojewa auf eine andere Arbeit versetzt, und das Krankenhaus übernahm eine neue Oberärztin, mit einem künstlichen Auge rechts oder links und mit dem Spitznamen Flunder.
Diese Flunder entließ mich sofort und schickte mich am selben Abend mit Begleitposten in den Kommandantenlagerpunkt nach Jagodnoje, von wo ich noch in derselben Nacht zur Bereitstellung von Pfählen für Hochspannungsleitungen an den Diamantenquell geschickt wurde. Die Ereignisse, die sich dort zutrugen, habe ich in der Erzählung »Der Diamantenquell« beschrieben.
Obwohl es dort keinen Begleitposten gab, waren die Bedingungen unmenschlich, extrem sogar für die Kolyma.
Wer die Tagesnorm nicht erfüllte, der bekam dort einfach gar kein Brot. Man hängte Listen aus, wer morgen kein Brot bekommt für die heutige Produktion.
Ich habe viel Willkür erlebt, aber so etwas habe ich niemals und nirgends gesehen. Als ich selbst auf diese Listen geriet, zögerte ich nicht, sondern floh, lief zu Fuß nach Jagodnoje. Meine Flucht gelang. Man konnte sie auch eigenmächtiges Fernbleiben nennen – denn ich ging nicht »ins Eis«, sondern meldete mich in der Kommandantur. Ich wurde wieder festgenommen, und wieder wurde eine Untersuchung eingeleitet. Und wieder fand der Staat, dass meine neue Haftzeit erst zu kürzlich begonnen hatte.
Diesmal ging ich nicht ins Durchgangslager, sondern bekam eine Überweisung in die Spezialzone Dshelgala – dieselbe, in der ich vor einem Jahr vor Gericht stand. Gewöhnlich wird man an den Ort, von dem man zum Verfahren kam, nach dem Verfahren nicht mehr zurückgebracht. Hier machten sie es anders, vielleicht versehentlich.
Ich ging durch dasselbe Tor, stieg auf
Weitere Kostenlose Bücher