Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Fragin ans Linke Ufer ins Häftlingskrankenhaus auf eine Stelle nicht als Kaderbeauftragter, wie er und die Leitung wollten, sondern als Chef der KWTsch – der Kultur- und Erziehungsabteilung. Man versicherte ihm, dass er die Erziehung der Häftlinge meistern würde. Die Versicherungen waren begründet. Alle wussten, was für ein Nichts jede KWTsch ist, dass das eine Sinekure ist, und nahmen Fragins Ernennung billigend, im besten Falle gleichgültig auf. Und tatsächlich, der grauhaarige, krausgelockte Oberstleutnant, elegant, mit immer sauberer Kragenbinde, parfümiert mit einem billigen, aber nicht Dreifach-Eau de Cologne, war sehr viel sympathischer als Unterleutnant Shiwkow, Fragins Vorgänger auf dem Posten des Chefs der KWTsch.
Shiwkow hatte sich weder für Konzerte noch für den Film, noch für Versammlungen interessiert, und seine ganze aktive Tätigkeit konzentrierte und arrangierte er glücklich um die Frage des Liebeslebens. Shiwkow, Junggeselle und ein kerngesunder schöner Mann, lebte gleich mit zwei Frauen, beide Häftlinge. Beide arbeiteten sie im Krankenhaus. Im Krankenhaus ist es wie auf dem Dorf hinter Twer, es gibt keine Geheimnisse – alle wissen alles. Seine eine Freundin war eine Ganovin, eine »Abgefallene«, die in die Welt der »
frajer
« gewechselt war, eine verwegene Schönheit aus Tbilisi . Mehrfach hatten die Ganoven versucht, Tamara zur Raison zu bringen. Nichts half. Und auf alle Befehle der »Paten« , da und da zu erscheinen zur Erfüllung ihrer klassischen Pflichten, antwortete Tamara mit Fluchen und Lachen, keineswegs mit feigem Schweigen.
Die zweite Passion Shiwkows war eine Krankenschwester und Estin mit Artikel achtundfünfzig, eine blonde Schönheit von markant deutschem Typ – das vollkommene Gegenteil der brünetten Tamara. Nichts Ähnliches war im Äußeren dieser beiden Frauen. Beide nahmen die Avancen des Unterleutnants sehr liebenswürdig entgegen. Shiwkow war ein großzügiger Mensch. Damals war es schwierig mit den Rationen. Den Freien gab man an bestimmten Tagen Lebensmittel, und Shiwkow trug immer zwei gleiche Päckchen ins Krankenhaus – eins für Tamara, das andere für die Estin. Es war bekannt, dass auch die Liebesbesuche von Shiwkow am selben Tag stattfanden, beinahe zur gleichen Stunde.
Und dieser Shiwkow, der gute Kerl, hatte einen Häftling vor aller Augen in den Hals geschlagen, aber weil die Leitung eine andere, eine höhere Welt ist, wurden diese Attacken nicht bestraft. Und nun löste ihn der schöne grauhaarige Fragin ab. Fragin hatte den Posten eines Chefs der ISTsch angestrebt, der dritten Abteilung, das heißt eine Arbeit in seinem Beruf, aber solche Arbeit fand sich nicht. Und der Kaderspezialist musste sich mit der kulturellen Erziehung der Häftlinge befassen. Der Satz bei KWTsch und ISTsch war derselbe, sodass Fragin hier nichts verlor. Romane mit weiblichen Häftlingen fing der grauhaarige Oberstleutnant nicht an. Wir hörten zum ersten Mal aus der Zeitung vorlesen und, was noch wichtiger ist, wir hörten den persönlichen Bericht eines Kriegsteilnehmers vom Krieg.
Bis dahin hatten uns vom Krieg nur Wlassow-Anhänger,
polizei
, Marodeure und Leute erzählt, die mit den Deutschen kollaboriert hatten. Wir verstanden den Unterschied in der Information, wir wollten einen Sieger, einen Helden hören. Dies war für uns der Oberstleutnant, der in seiner ersten Versammlung der Häftlinge vom Krieg berichtete, von den Heerführern erzählte. Natürlich weckte Rokossowskij besonderes Interesse. Wir hatten schon lange von ihm gehört. Und Fragin hatte eben in Rokossowskijs SMERSch gearbeitet. Fragin lobte Rokossowskij als Kommandeur, der den Kampf nicht scheut, auf die wichtigste Frage jedoch, ob Rokossowskij im Gefängnis gesessen hat und ob es stimmt, dass in seinen Einheiten Ganoven sind, gab Fragin keine Antwort. Das war der erste Bericht über den Krieg aus dem Mund eines Beteiligten, den ich seit Januar 1937 hörte, seit dem Tag meiner Verhaftung. Ich erinnere mich, ich fing jedes Wort auf. Das war im Sommer 1949 in einer großen Waldaußenstelle. Unter den Holzfällern war Andrussenko, ein blonder Panzerkommandeur, Teilnehmer an der Schlacht um Berlin, Held der Sowjetunion, verurteilt für Marodieren und für Diebstähle in Deutschland. Uns war die juristische Grenzlinie gut bekannt, die das Leben eines Menschen in Ereignisse vor und nach dem Tag der Verabschiedung eines Gesetzes zerschneidet, ein und derselbe Mensch ist bei gleichem Verhalten
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