Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
die Ärzte wurde Kiprejew von Neuem ins Krankenhaus geschickt. Das Röntgenkabinett funktionierte wieder.
In jene Zeit fällt Kiprejews Experiment mit der Blende.
Das Fremdwörterbuch von 1964 erklärt das Wort »Blende« so: »… 4) Diaphragma (Klappe mit willkürlich veränderbarer Öffnung), das in der Photographie, der Mikroskopie und der Röntgenoskopie verwendet wird.«
Zwanzig Jahre früher gab es im Fremdwörterbuch keine »Blende«. Das ist eine Neuerung aus der Kriegszeit – eine Erfindung in Zusammenhang mit dem Elektronenmikroskop.
Kiprejew war eine abgerissene Seite aus einer technischen Zeitschrift in die Hände gefallen, und die Blende wurde eingesetzt im Röntgenkabinett des Häftlingskrankenhauses am linken Ufer der Kolyma.
Die Blende war der Stolz von Ingenieur Kiprejew – seine Hoffnung, eine schwache Hoffnung übrigens. Über die Blende wurde auf der ärztlichen Konferenz berichtet, ein Bericht nach Magadan, nach Moskau geschickt. Keine Antwort.
»Kannst du einen Spiegel machen?«
»Natürlich.«
»Einen großen. Eine Art Trumeau.«
»Ganz egal. Wenn es Silber gäbe.«
»Und Silberlöffel?«
»Die gehen.«
Dickes Glas für die Tische in den Chefkabinetts wurde aus dem Lagerhaus bestellt und ins Röntgenkabinett gebracht.
Der erste Versuch misslang, und Kiprejew zerhackte den Spiegel wütend mit dem Hammer.
Eines der Bruchstücke ist mein Spiegel, ein Geschenk Kiprejews.
Das zweite Mal ging alles gut, und die Leitung bekam aus Kiprejews Händen ihren Traum, einen Trumeau.
Der Chef dachte nicht einmal daran, sich Kiprejew irgendwie erkenntlich zu zeigen. Wozu? Der gebildete Sklave muss schon dankbar sein, dass man ihn als Kranken im Krankenhaus hält. Hätte die Blende die Aufmerksamkeit der Leitung gefunden, dann hätte es einen Dank gegeben, nicht mehr. Ein Trumeau, das ist Realität, aber die Blende ist ein Mythos, Nebel … Kiprejew war ganz derselben Meinung wie der Chef.
Doch in den Nächten, wenn er auf der Liege in der Ecke des Röntgenkabinetts einschlief, nachdem endlich die x-te Freundin seines Gehilfen, Schülers und Informanten gegangen war, wollte Kiprejew weder der Kolyma glauben noch sich selbst. Die Blende war ja kein Witz. Das war eine technische Großtat. Nein, weder Moskau noch Magadan ging die Blende des Ingenieurs Kiprejew etwas an.
Im Lager antwortet man nicht auf Briefe und mahnt nicht gern. Man kann bloß warten. Auf eine Gelegenheit, auf ein wichtiges Treffen.
All das zerrte an den Nerven – falls dieses zerissene, zerrüttete Chagrinleder noch vorhanden war.
Die Hoffnung bedeutet für einen Häftling immer eine Fessel. Hoffnung ist immer Unfreiheit. Ein Mensch, der auf etwas hofft, ändert sein Verhalten und verstellt sich öfter als ein Mensch, der keine Hoffnung hat. Solange der Ingenieur auf die Entscheidung über diese verdammte Blende wartete, biss er sich auf die Zunge, überhörte alle passenden und unpassenden Scherze, mit denen sich seine unmittelbaren Chefs vergnügten, ganz zu schweigen schon von dem Gehilfen, der auf seinen Tag und seine Stunde wartete, wenn er der Herr sein wird. Rogow hatte inzwischen auch gelernt, Spiegel herzustellen – der Gewinn, die Fettaugen waren gesichert.
Von der Blende wussten alle. Ihre Scherze über Kiprejew machten alle – darunter auch der Parteisekretär des Krankenhauses, der Apotheker Krugljak. Der pausbäckige Apotheker war kein schlechter Kerl, aber heißblütig, und vor allem hatte man ihm beigebracht, dass ein Häftling ein Wurm ist. Und dieser Kiprejew … Der Apotheker war erst kürzlich ins Krankenhaus gekommen, die Geschichte von der Aufarbeitung der Glühbirnen hatte er nirgends gehört. Niemals hatte er daran gedacht, was es kostete, mitten in der Tajga im Hohen Norden ein Röntgenkabinett zusammenzubauen.
Die Blende erschien Krugljak als schlauer Einfall Kiprejews, als »Nebelwerfen«, eine »
tufta
« – diese Worte hatte der Apotheker ja schon gelernt.
Im Behandlungsraum der chirurgischen Abteilung putzte Krugljak Kiprejew herunter. Der Ingenieur griff sich einen Hocker und holte nach dem Parteisekretär aus. Sofort wurde Kiprejew der Hocker entrissen, und man brachte ihn ins Zelt.
Kiprejew drohte die Erschießung. Oder der Abtransport in ein Strafbergwerk, in eine Spezialzone, was schlimmer ist als Erschießung. Kiprejew hatte im Krankenhaus viele Freunde, und nicht nur wegen der Spiegel. Die Geschichte mit den Glühbirnen war allseits bekannt und frisch. Man half ihm. Aber da war
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