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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Flüsschens, sondern der hölzernen Rinne aus der Waschtrommel –, trotzdem bedeutete es Sommer, Sonne und Wasser. Der Isolatorchef hatte Angst, mich hinauszulassen, um das Geschirr abzuwaschen, und es selbst abzuwaschen, war er nicht zu faul, es war einfach blamabel für einen Isolatorchef. Seinem Amt nicht gemäß. Und Häftling, der ohne Ausgang saß, gab es nur einen – mich. Die anderen Sträflinge liefen herum – und ihr Geschirr musste abgewaschen werden. Ich wusch es auch gern ab – für die Luft, für die Sonne, für ein Süppchen. Wer weiß, ob ich ohne den täglichen Spaziergang damals bis vor Gericht gekommen wäre, alle Schläge ertragen hätte, die ich abbekam.
    Der alte Isolator war abgetragen, und nur die Spuren seiner Mauern, die verbrannten Gruben von den Öfen waren geblieben, und ich setzte mich ins Gras und erinnerte mich an meine Verhandlung, meinen »Prozess«.
    Ein Haufen alter Eisenstücke, ein Stoß, der leicht zerfiel, und als ich die Eisenstückchen durchsah, sah ich plötzlich mein Messer, ein kleines Finnenmesser, das mir der Krankenhausfeldscher irgendwann zum Abschied geschenkt hatte. Ich brauchte das Messer im Lager nicht sehr – ich kam leicht auch ohne Messer aus. Aber jeder Lagerinsasse ist stolz auf einen solchen Besitz. Auf beiden Seiten der Klinge war mit einer Feile eine kreuzförmige Markierung gemacht. Dieses Messer hatte man mir bei der Verhaftung vor zwei Jahren abgenommen. Und jetzt hatte ich es wieder in der Hand. Ich legte das Messer auf den Haufen der rostigen Eisenstücke.
    Vor zwei Jahren war ich mit Warpachowskij hier heraufgefahren – er war längst in Magadan, mit Saslawskij –, er war längst in Sussuman, und ich? Ich komme zum zweiten Mal in die Spezialzone.
    Iwan Grek hatte man weggebracht.
    »Komm her.«
    Ich wusste schon, worum es geht. Der Rückengürtel an meiner Weste, der offene Kragen an meiner Weste, der gestrickte Baumwollschal, der breite Anderthalbmeterschal, den ich sorgfältig zu verbergen versuchte, hatte das erfahrene Auge des Lagerältesten angezogen.
    »Aufknöpfen!« Ich knöpfte die Weste auf.
    »Wir tauschen.« Der Älteste zeigte auf den Schal.
    »Nein.«
    »Überlegs dir, du bekommst dafür ordentlich.«
    »Nein.«
    »Nachher ist es zu spät.«
    »Nein.«
    Es begann eine regelrechte Jagd auf meinen Schal, aber ich hütete ihn gut, band ihn mir während des Schwitzbades um und nahm ihn niemals ab. Im Schal hatten sich bald Läuse eingenistet, aber auch diese Qualen war ich bereit zu ertragen, um nur den Schal zu behalten. Manchmal nahm ich den Schal nachts ab, um mich von den Läusebissen zu erholen, und ich sah im Licht, wie der Schal sich regte, sich bewegte. So viele Läuse waren darin. In irgendeiner Nacht war es unerträglich, der Ofen war angeheizt, es war ungewohnt heiß, und ich nahm den Schal ab und legte ihn neben mich auf die Pritsche. Augenblicklich war der Schal verschwunden, und verschwunden für immer. Eine Woche später, als ich zum Ausrücken ging und mich darauf einstellte, den Aufsehern in die Hände zu fallen und den Berg hinunter zu fliegen – sah ich den Ältesten, der am Tor der Wache stand. Um den Hals des Ältesten war mein Schal gewickelt. Selbstverständlich war der Schal gewaschen, gekocht, desinfiziert. Der Älteste sah mich nicht einmal an. Und auch ich sah meinen Schal nur einmal an. Zwei Wochen hatte meine Kraft, hatte mein unablässiger Kampf gehalten. Wahrscheinlich hatte der Älteste dem Dieb weniger Brot bezahlt, als er mir am Tag der Ankunft gegeben hätte. Wer weiß. Ich dachte darüber nicht nach. Mir wurde sogar leichter, die Bisse am Hals heilten jetzt ab und ich schlief jetzt besser.
    Und trotzdem werde ich diesen Schal niemals vergessen, den ich so kurze Zeit besaß.
    In meinem Lagerleben gab es fast niemals namenlose Hände, die mich im Schneesturm, im Sturm unterstützt, namenlose Kameraden, die mir das Leben gerettet hätten. Aber ich erinnere mich an jedes Stück Brot, das ich aus fremden, nichtstaatlichen Händen gegessen habe, an jede Machorka-Papirossa. Viele Male war ich ins Krankenhaus gekommen, neun Jahre lebte ich zwischen Krankenhaus und Bergwerk, ohne auf irgendetwas zu hoffen, doch auch ohne irgendjemandes Almosen zu verschmähen. Viele Male verließ ich das Krankenhaus, und schon im ersten Durchgangslager zogen mich die Ganoven oder die Lagerleitung aus.
    Die Spezialzone hatte sich ausgedehnt; Wache und Isolator, von den Wachtürmen aus zu beschießen, waren neu. Neu waren

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