Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
irgendeine Weise, die uns damals möglich war – Mehlklößchen, dünner Weizenbrei, die berühmten »Wasserspatzen« oder einfach Roggenfladen, Pfannkuchen oder -küchlein.
<1967>
Die Stadt auf dem Berg
In diese Stadt auf dem Berg war ich das zweite und letzte Mal im Leben im Sommer fünfundvierzig gebracht worden. Aus dieser Stadt hatte man mich vor zwei Jahren zum Verfahren vor das Tribunal geholt, man gab mir zehn Jahre, und ich wanderte durch – todverheißende – Vitaminaußenstellen, zupfte Krummholz, lag im Krankenhaus, arbeitete wieder in Außenstellen und bin aus dem Abschnitt »Diamantenquelle«, wo die Bedingungen unerträglich waren – geflohen, wurde gefasst und der Ermittlung übergeben. Meine neue Haftzeit hatte gerade begonnen – der Untersuchungsführer entschied, dass der Staat keinen großen Nutzen haben wird von einer neuen Untersuchung, einem neuen Urteil, einem neuen Beginn der Haftzeit, einer neuen Zählung der Zeit meines Häftlingslebens. Die Aktennotiz sprach vom Strafbergwerk, von der Spezialzone, in der ich von nun an und bis an der Welt Ende sein sollte. Aber ich wollte nicht sagen – Amen.
In den Lagern gibt es eine Regel – erneut Verurteile nicht in jene Bergwerke zu schicken, zu »etappieren«, in denen sie früher gearbeitet haben. Darin liegt ein großer praktischer Sinn. Der Staat verbürgt seinen Geheimen Mitarbeitern, seinen Denunzianten, Meineidigen und falschen Zeugen das Leben. Das ist ihr rechtliches Mindestmaß.
Aber mit mir verfuhr man anders – und nicht nur wegen der Faulheit des Untersuchungsführers. Nein, die Helden der Gegenüberstellung, die Zeugen meines früheren Verfahrens waren aus der Spezialzone schon weggebracht worden. Weder der Brigadier Nesterenko noch der stellvertretende Brigadier, der Vorarbeiter Kriwizkij, noch der Journalist Saslawskij, noch der mir unbekannte Schajlewitsch waren noch in Dshelgala. Als Leute, die sich gebessert, Ergebenheit bewiesen hatten, waren sie schon aus der Spezialzone weggebracht worden. Also hatte der Staat die Denunzianten und falschen Zeugen ehrlich für ihre Arbeit bezahlt. Mein Blut, meine neue Haftzeit waren dieser Preis, diese Bezahlung.
Zum Verhör wurde ich nicht mehr gerufen, und ich saß nicht ohne Vergnügen in der vollgestopften Untersuchungszelle der Nördlichen Verwaltung. Was sie mit mir tun werden, wusste ich nicht, ob meine Flucht als eigenmächtiges Fernbleiben gewertet wird – ein weitaus geringeres Vergehen als die Flucht?
Nach etwa drei Wochen rief man mich und führte mich in eine Etappenzelle, am Fenster saß ein Mann im Mantel, in guten Stiefeln und in einer dicken, fast neuen Weste. Mich hatte er gleich »gesichtet«, wie die Ganoven sagen, er verstand gleich, dass ich der allergewöhnlichste
dochodjaga
bin, der keinen Zugang hat zur Welt seines Nachbarn. Und ich hatte ihn auch »gesichtet«: immerhin war ich nicht einfach ein »
frajer
«, sondern ein »beschlagener
frajer
« . Vor mir hatte ich einen Ganoven, den man, so schloss ich, mit mir gemeinsam irgendwo hinbringen würde.
Sie brachten uns in eine Spezialzone, in das mir bekannte Dshelgala.
Nach einer Stunde ging die Tür unserer Zelle auf:
»Wer ist Iwan Grek?«
»Das bin ich.«
»Eine Übergabe für dich.« Der Soldat händigte Grek ein Bündel aus, und der Ganove legte das Bündel ohne Eile auf die Pritsche.
»Bestimmt bald?«
»Das Fahrzeug kommt.«
Ein paar Stunden später kroch das Fahrzeug, Gas gebend und schnaufend, an Dshelgala heran, an die Wache.
Der Lagerälteste trat hervor und prüfte unsere Papiere – Iwan Greks und meine.
Das war eben die Zone, in der man »bis auf den letzten« zur Arbeit ausrückte, in der Schäferhunde vor meinen Augen ausnahmslos alle, Gesunde und Kranke, zur Wache hinausjagten, in der man zum Ausrücken zur Arbeit hinter der Wache antrat, am Tor der Zone, von wo der steile Weg bergab, die Flugbahn durch die Tajga losging. Das Lager lag auf dem Berg, und gearbeitet wurde unten, und das bewies, dass die menschliche Grausamkeit grenzenlos ist. Auf dem Platz vor der Wache packten zwei Aufseher jeden Verweigerer an Armen und Beinen, holten Schwung und warfen ihn nach unten. Der Häftling rollte und stürzte an die dreihundert Meter, unten empfing ihn ein Soldat, und wenn der Verweigerer nicht aufstand, unter den Stößen und Schlägen nicht lief, band man ihn an den Pferdeschlitten, und die Pferde zogen den Verweigerer zur Arbeit – bis zu den Gruben war es nicht weniger als ein
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