Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
und rief nach der Katze.
Aber die Katze kam nicht.
<1967>
Fremdes Brot
Es war fremdes Brot, das Brot meines Kameraden. Der Kamerad vertraute nur mir, er war zum Arbeiten in die Tagschicht gegangen, und das Brot blieb bei mir in einem kleinen russischen hölzernen Handköfferchen. Heute werden solche Köfferchen nicht mehr hergestellt, aber in den zwanziger Jahren prahlten Moskauer Schönheiten damit – mit den sportlichen »Kroko«-Täschchen aus Kunstleder. In dem Köfferchen war das Brot, die Brotration. Wenn man das Köfferchen rüttelte, rutschte das Brot im Innern des Kastens. Der Koffer lag unter meinem Kopf. Ich schlief lange nicht ein. Hungrige Menschen schlafen schlecht. Aber ich schlief deshalb nicht ein, weil an meinem Kopfende das Brot war, das fremde Brot, das Brot meines Kameraden. Ich setze mich im Bett auf … Mir schien, als schauten mich alle an, als wüssten alle, was ich zu tun vorhabe. Aber der Barackendienst setzte irgendwo einen Flicken auf. Ein anderer Mann, dessen Nachnamen ich nicht weiß, arbeitete genauso wie ich in der Nachtschicht und lag jetzt auf einem fremden Platz in der Mitte der Baracke, mit den Füßen zum warmen Eisenofen. Bis zu mir kam diese Wärme nicht. Dieser Mann lag auf dem Rücken, das Gesicht nach oben. Ich ging hin – seine Augen waren geschlossen. Ich schaute auf die obere Pritsche – dort, in der Barackenecke, schlief oder lag jemand, zugedeckt mit einem Haufen Lumpen. Ich legte mich wieder auf meinen Platz, mit dem festen Entschluss, einzuschlafen. Ich zählte bis tausend und stand wieder auf. Ich klappte den Koffer auf und nahm das Brot heraus. Das war eine Dreihunderterration, kalt, wie ein Stück Holz. Ich hielt es an die Nase, und die Nasenlöcher fingen heimlich den kaum merklichen Brotgeruch auf. Ich legte das Stück zurück in den Koffer und holte es wieder hervor. Ich kippte den Kasten und schüttete mir ein paar Brotkrümel auf die Hand. Ich leckte sie mit der Zunge auf, sofort füllte sich der Mund mit Speichel, und die Krümel schmolzen. Ich schwankte nicht mehr. Ich zwickte drei Brotstückchen ab, nicht groß, so groß wie der Nagel des kleinen Fingers, tat das Brot in den Koffer und legte mich hin. Ich hatte die Brotkrümel abgezwickt und lutschte sie. Und ich schlief ein, stolz darauf, dass ich das Brot des Kameraden nicht gestohlen hatte.
<1967>
Der Diebstahl
Es schneite, der Himmel war grau, die Erde war grau, und die feine Kette von Menschen, die von einem verschneiten Hügel auf den anderen hinüberstiegen, zog sich über den ganzen Horizont. Dann mussten wir lange warten, während der Brigadier seine ganze Brigade antreten ließ, als verberge sich hinter dem verschneiten Hügel irgendein General.
Die Brigade trat paarweise an und bog ab vom Pfad, dem kürzesten Weg nach Hause, in die Baracke – auf einen anderen Weg, für Pferde. Kürzlich war hier ein Traktor gefahren, der Schnee hatte seine Spuren, die aussahen wie die Pfotenabdrücke eines prähistorischen Tiers, noch nicht zugestreut. Das Laufen ging sehr viel schlechter als auf dem Pfad, alle beeilten sich, jeden Augenblick trat jemand daneben, blieb zurück, zog eilig die schneegefüllten Watte
burki
aus dem Schnee und rannte, um die Kameraden einzuholen. Plötzlich zeigte sich hinter einer Biegung an einer großen Schneewehe die schwarze Figur eines Mannes im weißen langen Pelz. Erst als ich näher kam, sah ich, dass die Schneewehe ein flacher Stapel aus Mehlsäcken war. Wahrscheinlich war hier ein Fahrzeug steckengeblieben und entladen worden, und der Traktor hatte es unbeladen abgeschleppt.
Die Brigade lief direkt auf den Wächter zu, in schnellem Schritt am Stapel vorbei. Dann wurde der Schritt der Brigade etwas langsamer, ihre Reihen zerfielen. Im Dunkeln strauchelnd, erreichten die Arbeiter schließlich das Licht der großen Lampe, die am Lagertor hing.
Die Brigade trat vor dem Tor eilig und ungeordnet an und klagte über den Frost und die Müdigkeit. Der Aufseher trat heraus, öffnete das Tor und ließ die Leute in die Zone ein. Die Leute liefen auch innerhalb des Lagers selbst weiter im Verband, aber ich verstand noch immer nichts.
Erst gegen Morgen, als sie das Mehl aus den Säcken verteilten, mit einem Kochgeschirr anstelle eines Maßes schöpfend, verstand ich, dass ich zum ersten Mal im Leben an einem Diebstahl beteiligt war.
Große Aufregung rief das bei mir nicht hervor: Ich hatte keine Zeit, über all das nachzudenken, ich musste meinen Anteil kochen, auf
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