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Es blieb nur ein rotes Segel

Es blieb nur ein rotes Segel

Titel: Es blieb nur ein rotes Segel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Pobedonoszew, der Lehrer und Berater des Zarewitsch und Vertrauter des Zaren Alexander III. – besonders, wenn es um absolute private, diskrete Probleme ging – brachte eine Neuigkeit in den Anitschkowpalast.
    Wie immer ließ ihn der Zar in sein privates Kabinett führen, diesen mit Gemälden überladenen Raum, in dem sich der sittenstrenge Herrscher am wohlsten fühlte. Kunst und Regieren – das waren zwar konträre Welten, aber Alexander III. konnte sie zu seltener Harmonie verschmelzen. Wenn er vor seinen Gemälden saß, kamen ihm die besten Gedanken zur Ausübung seiner absoluten Macht.
    Die Zarenfamilie hatte fast nie teil daran, der Zar hielt alle Politik aus seinem Privatleben fern und lehrte seinen Söhnen, vor allem dem Zarewitsch, vor allem eines: Der Zar hat immer recht! Der Zar ist absolut! Der Zar kommt für jeden Russen gleich hinter Gott. Der Zar ist Rußland!
    Pobedonoszew also kam an diesem Tag in bester Stimmung zu seinem Herrscher. Er brachte zwei Fotos mit, die in schmalen silbernen Rahmen steckten. Diese stellte er auf den großen Schreibtisch des Zaren und trat dann einen Schritt zurück.
    Die Aufnahmen zeigten ein liebliches, unschuldiges Jungmädchengesicht, eingerahmt von langen blonden Locken. Die Augen blickten etwas verträumt, das Lächeln um die Lippen ging zu Herzen: ein Engel von ergreifender Reinheit.
    Der Zar warf einen langen Blick auf die Fotos, lehnte sich in seinem Sessel zurück und kratzte sich den Nasenrücken.
    »Wenn wir zwei nicht so alte Esel wären, Konstantin Petrowitsch«, sagte er gutgelaunt, »dann würde ich fragen: Wo wohnt die junge Dame? Kann man sie ungesehen besuchen?«
    »Das ist eine gute Frage!« Pobedonoszew stützte sich auf die hohe Lehne eines Sessels. »Die junge Dame heißt Alice, Prinzessin von Hessen, und wir brauchen nicht in ihr Haus zu schleichen, sondern können in der Kalesche vorfahren und ihren Vater, den Großherzog Ludwig, fragen, ob er einverstanden ist.«
    »Womit einverstanden, du alter Tropf?«
    »Der Schwiegervater des künftigen Zaren Nikolaus zu werden.«
    »Du bist verrückt, Pobedonoszew!« rief der Zar. »Total übergeschnappt! Willst du meinen Sohn mit diesem Engel verkuppeln?«
    »Es ist nicht mehr nötig.« Pobedonoszew lächelte breit. »Der Zarewitsch ist bis in die Haarspitzen in sie verliebt.«
    »Und darüber freust du dich?« Der Zar beugte sich vor. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Fotos von Alice von Hessen genauer. Er hatte sie jetzt nicht wiedererkannt. Als er sie zum erstenmal sah, im Jahr 1884, war sie zwölf Jahre alt gewesen und besuchte ihre Schwester, die Großfürstin Elisabeth, die Frau des Großfürsten Sergej Romanow.
    Überhaupt spielten die Hessen eine große Rolle in der Zarenfamilie … Alexanders III. eigene Mutter, die Zarin Maria Alexandrowna, war eine geborene Prinzessin von Hessen, und Alexander II. war mit ihr glücklich geworden, wenn man davon absieht, daß er einige Mätressen hatte. Aber darüber sprach man am Zarenhof nicht. Es war normal wie eine Mehlsuppe.
    Zum zweitenmal war Alice zum prunkvollen Silvesterball 1889 nach St. Petersburg gekommen, scheu und schön, von der snobistischen russischen Gesellschaft mit Ironie betrachtet. Man wußte, daß sie eine schöne Stimme besaß und in Darmstadt bei der Frau des Pastors Knispel und bei Professor Herborn in Frankfurt Gesangsunterricht genommen hatte. Sie sang vor allem Mozartarien, zuweilen auch Rossini und Verdi. Ihre Lieblingsoper war ›La Traviata‹. Auch Klavier spielte sie sehr gut, – Kapellmeister von Hahn war ihr gestrenger Lehrer.
    Nach diesem Silvesterball 1889, auf dem sich der junge Zarewitsch so intensiv um Alice gekümmert hatte, daß man darüber nicht nur in der Nähe des Hofes munkelte, schrieben die englischen Zeitungen unverblümt, eine Heirat mit dem Großfürst-Thronfolger und der hessischen Prinzessin, die ja eine Enkelin der englischen Königin war, wäre ein Unterpfand der russisch-englischen Annäherung. Und Alice gestand ihrer Freundin, daß der charmante Prinz mit den Gazellenaugen einen unwiderstehlichen Zauber auf sie ausübe.
    »Ich denke nicht einmal daran!« hatte Alexander III. damals auf eine leise Anfrage der Hofschranzen geantwortet. Eine typische Antwort, die alle Diskussion ausschloß.
    Als 1891 Alice noch einmal nach Rußland kam und ihre Schwester auf Ilinskoje bei Moskau besuchte, verbot der Zar sogar kategorisch, daß Nikolai Alexandrowitsch sie dort wiedersah.
    »Ich will keine

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