Es darf auch mal Champagner sein
ich eben zusehen, wie ich weiterkam.
Leicht war es nicht. Mich umgaben Leser von Leitfäden zur Lebensbewältigung, die darauf brannten, mir ihre Erkenntnisse noch zusätzlich aufzudrängen. Eines Abends kam dann der erste große Test für mich.
Wir gingen auf eine Cocktailparty bei Jill. Mein Mann hasst Cocktailpartys. Er sagt, die Leute tränken immer zu viel, und eine Unterhaltung mit ihnen sei wie ein Stopp an der Verkehrsampel: Ein rotes Auge blinzelt einem zu, und fünf Sekunden später prescht alles auf und davon.
Ich aber wandelte wie auf Wolken. Zur Fastenzeit wollte sich meine Tochter das Fernsehen abgewöhnen. Mein ältester Sohn hatte sich den Bart abrasiert und sah nicht mehr aus wie eine Gedenkmünze für Abraham Lincoln. Heute war von unserem jüngeren Sohn aus dem College ein Brief eingetroffen. (Er schrieb Mom mit zwei o, aber schließlich war er erst im ersten Semester.)
Die ganze Familie freute sich, dass ich nicht mehr an mir arbeitete, um ein besserer Mensch zu werden, sondern zu meinen alten Untugenden zurückgekehrt war. Ich liebte nicht nur meinen Nächsten wie mich selbst, sondern sogar noch mehr, war völlig unsicher in meinem Job und hatte keinen blassen Dunst, was ich fühlte und wenn ja, warum.
Naturgemäß waren nach Absetzen der Selbsthilfebücher gewisse Entzugserscheinungen bei mir aufgetreten. Aber das hatte ich vorher gewusst. Eines Tages zahlte ich eben an der Kasse im Supermarkt, da fiel mir gleich neben dem Packtisch eine Schlagzeile ins Auge. »Es ist elf Uhr. Wissen Sie, wo ihre Ängste sind?«
Mir wurden die Hände nass, die Kehle trocken, und instinktiv wühlte ich in der Handtasche nach meiner Brille. Mein Mann kam gerade noch rechtzeitig dazu, führte mich zum Ausgang und sagte: »Du brauchst einen Drink.«
Es war sonderbar, jetzt mitten in Jills Wohnzimmer zu stehen. Ich musste daran denken, dass hier alles begonnen hatte.
Eine Stimme an meinem Ellbogen unterbrach meine Gedanken.
»Hallo, wie wär's mit einem Cocktail?«
Es war Phyllis.
»Aber gewiss doch«, lächelte ich.
»Und dazu eine Käsestange?«
»Ja, gern.«
»Und wie wär's mit dem Buch ›Wie bewältigen Sie Ihr Biofeedback bei Vollmond?‹«
»Adieu, Phyllis!«
»He, warte«, rief sie. »Sogar der Papst ist für Biorhythmus.«
»Mir egal, ob es im Moment der Hit ist. Mir kommen keine weiteren Selbsthilfebücher ins Haus.«
»Während du dastehst und redest«, sagte Phyllis, »werden deine Frustrationen, Spannungen und inneren Konflikte zu spezifischen Geschehnissen innerhalb deines Körpers umgesetzt.«
»Ich muss dich leider verlassen, Phyllis, und es wird sehr blöd aussehen, wenn du dastehst und Selbstgespräche hältst.«
»Verhüte Gott, dass dein Biorhythmus unsynchron wird, so was kommt nämlich vor. Vielleicht ist gerade heute einer deiner kritischen Tage, und da besteht immerhin die Möglichkeit, dass dir etwas ganz Dummes passiert.«
»Eben dem sage ich ja gerade adieu.«
»Wieso bist du denn so sauer?«, bohrte Phyllis weiter.
»Weil mein Leben aus dem Lot gekommen ist, seit du mich auf ›Die unvollkommene Frau‹ angesetzt hast.«
»Dann stimmt es also: Du hast Eheprobleme.«
Rita, die unser Gespräch mit angehört hatte, warf ein: »Hör mal, Schatz, Dan und ich schwören auf den Nahkampf-Club in Massage Village, ca. 70 km nördlich von hier. Ein wundervolles, ganz neues Partnererlebnis. Und Garderobe und so kannst du vergessen, wenn du weißt, was ich meine.«
»Nein, wirklich, Rita, unsere Ehe geht prima. Die Kinder sind alle außer Haus und...«
»Wenn ich dich richtig verstehe, hast du das Trauma des leeren Nests«, meinte Natalie. »Manche schaffen den Übergang mühelos. Aber gerade du musst sehr aufpassen. Du bist der mütterliche Typ. Das haben wir doch immer schon gewusst. Dich haben deine Kinder vollständig ausgefüllt. Und die ulkigen Kuchen, die du ihnen immer zum Geburtstag gebacken hast... und die Rolle Stoff, aus der du sie alle gleich angezogen hast, wie Tapeten ... und an deinem Haus hing, so lange ich denken kann, immer das Schild: ›Junge Katzen gratis abzugeben!‹. Hast du das Buch gelesen ›Das Nest der Tränen. Mein Kind lehnt mich ab, was tun?‹«
»Natalie, hör zu: Ich fühle mich nicht abgelehnt. In meinem Alter muss man schließlich damit rechnen...«
»Hör sie dir an«, sagte Marcia. »In ihrem Alter... wenn ich so was schon höre! Ich habe ein Plätzchenblech, das älter ist als du. Sei doch nicht so verunsichert. Du bist doch noch
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