Es geht uns gut: Roman
(das könnte auch Ingrid brauchen, sie ißt den Kindern bereits heimlich das Biomalz weg). Als hätte sie, was sie zu Philipp gesagt hat, im selben Moment wieder vergessen oder als glaube sie, sich ausreichend eingeschmeichelt zu haben, fängt Sissi zum zehnten Mal in dieser Woche an, Ingrid anzusingen, sie wolle sich die Ohren stechen lassen. Ingrid möchte wissen, woher das Mädchen diese hartnäckige Idee hat. Doch da im selben Moment das Fernsehbild zusammenfällt, weil Peter im Keller die Bohrmaschine in Betrieb genommen hat, bleibt Ingrid eine abermalige Behandlung des Themas erspart. Ein hochfrequentes Heulen füllt die Mauern des Hauses und den Kamin, gleichzeitig zucken hektische weiße und graue Linien über den Schirm und reißen die Mutter von Mariandl aus ihrem Erstaunen darüber, daß ihr Mann, der feine Herr Hofrat, hinter ihrem Rücken dem minderjährigen Mariandl die Erlaubnis zur Heirat gegeben hat.
Ingrid hält es im Kopf nicht aus, die Interferenzen, diese Mischung aus Heimatfilm und Bohrmaschinenstörfeuer, strahlen bis in ihr Hirn. Sie faßt es nicht: Wie konnte sie diese Ungeheuerlichkeit dreiundzwanzig Jahre lang übersehen? Wie konnte sie übersehen, daß sich die sitzengelassene Frau mit dem unehelichen Kind durch die dreißiger Jahre und den Krieg schlägt, damit der Herr Hofrat nach achtzehn Jahren daherkommt und sich großzügig zum totalen Familienoberhaupt aufschwingt? Wenn Ingrid sich vergegenwärtigt, daß ihr die Schnulze, als sie ein Mädchen war, Inbegriff des höchsten Glücks inmitten der vertrauten Landschaft gewesen ist. Wenn sie bedenkt, wie sehr sie von diesem Film und seinen Happy-End-Exzessen gerührt war, und ihre Freundinnen nicht weniger, in einem kollektiven Tagtraum, den der Film erzeugte oder aufgriff und verstärkte. Wenn sie außerdem bedenkt, wie sehr sie noch Jahre später für den Hofrat und seine bornierte Lebensart schwärmte und daß sie die Autogrammkarte des päpstlich lächelnden Paul Hörbiger bis heute bei den besonders gehüteten Schätzen aufbewahrt: Wenn sie dies alles bedenkt – und zwar unter dem Aspekt ihres eigenen Lebens und ihrer jetzigen Situation –, müßte ihr eigentlich speiübel werden.
Nach fünf Sekunden hat Peter sein Loch gebohrt, und die Bilder fluten zurück in die gewohnt ruhige Gangart, bis die Bohrmaschine nochmals für drei Sekunden alles durcheinanderwirft. Ingrid schickt Philipp in den Keller, er solle seinem Vater mitteilen, daß erst nach dem Mittagessen weiter gebohrt werden dürfe. Philipp, die Skibrille im Gesicht, rennt hinaus und kommt mit der Nachricht zurück, der Papa sei in drei Minuten fertig. Der Film auch. Tatsächlich halten die wiederhergestellten Bilder ihre Balance nur für Sekunden, dann lösen sie sich abermals in Zucken, Knistern und Rauschen auf; als würde Peter im Keller etwas versäumen. Mio marito . Ingrid nimmt es ihm übel.
– Was baut er da unten? fragt sie scharf.
– Ein Modell der Opernkreuzung, sagt Philipp naiv.
Heftig stampft Ingrid mehrmals mit dem Fuß gegen den Boden. Sie geht in die Diele, reißt die Tür zum Stiegenhaus auf und schreit die Treppe hinunter:
– Verdammt, ich schaue den Schluß des Films! Schlimm genug, daß dich deine Straßenkreuzungen mehr interessieren!
Sie kehrt in der gebotenen Schnelle ins Wohnzimmer zurück, gerade rechtzeitig, um ihren eigenen Auftritt nicht zu verpassen. Der Auftritt kommt ihr diesmal ausgesprochen kurz und substanzlos vor. Ingrid hat den Eindruck, von dem damaligen Mädchen völlig abgeschnitten zu sein. Die äußeren Spuren sind ebenso erloschen wie die Sehnsüchte und Träume von damals, keine Verbindung zu der vierunddreißigjährigen Frau, die übernächtigt mit einem summenden Gefühl in den Gliedern auf der Fernsehcouch eines kleinen Hauses im achtzehnten Bezirk sitzt und fassungslos in den Fernseher schaut, während ihre eigene Weltgestalt von 1947 über den Bildschirm geistert.
Philipp, der sein Lippenkauen unterbricht, sagt, er habe die Mama vor lauter Musik und anderen Menschen nicht gesehen, und er würde gerne wissen, wie der Film in den Fernseher kommt.
– Der Strom kommt aus der Steckdose, und die Sendung aus der Luft. Sie durchdringt die Wände, sonst könnte man nur im Freien fernsehen. Aber wie das geht, daß die Sendung durch die Wände dringt, und warum die Leute, die hinter den Flaktürmen wohnen, einen senkrechten Balken mitten durchs Bild haben, kann ich dir nicht erklären. Am besten, du fragst den Papa,
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