Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Schlitten hält alles aus.«
»Mein Schlitten ist vielleicht noch stärker«, antwortete Sigi. »Aber das Stürzen unten bei dem Affentempo! Denkst du nicht an Jonny Kellner?«
»Was geht mich Jonny Kellner an? Ich stürze besser.«
Karl trat nahe an Sigi heran: »Mach keinen Quatsch, Sigi. Das ist viel zu gefährlich.«
Die Mädchen und Jungen standen im Kreis um die beiden herum. Sie witterten das Abenteuer. Wie würde Sigi sich entscheiden? Nahm er die Herausforderung an? Er überlegte. Was geschah, wenn es schiefging? Wenn er sich die Knochen brach? Mutter brauchte ihn. Nein, es ging nicht. Sollte doch Hein in diesem Jahre König sein. Sigi nahm die Schlittenschnur und verließ den Kreis.
»Er kneift! Sigi Waldhoff kneift.« Wim war enttäuscht. Hein atmete auf.
Doch da sagte Wim: »Juden sind eben doch feige, wie?«
Sigi blieb stehen und blickte Wim zornig an.
»Ja«, sagte ein kleines Mädchen, »mein Vater sagt auch, alle Mörder sind feige.«
Am liebsten hätte sich Sigi auf das Kind gestürzt. Doch da fiel ihm Herrn Pfingstens Sprichwort ein: »Den Esel meint man, und den Sack schlägt man.« Er riss den Schlitten herum. Ohne ein Wort schritt er der Schneise zu. Es ging ihm jetzt nicht mehr darum, König zu sein. Er musste es einfach tun, ganz gleich, was daraus wurde.
»Dumme Pute!«, schimpfte Karl und gab dem kleinen Mädchen einen Stoß, dass es in den Schnee fiel. Es schrie, aber niemand kümmerte sich darum.
Hein hätte jetzt am liebsten gesagt: »Ach, ich habe keine Lust mehr, sei du ruhig König.« Aber als er die vielen Kinder um sich sah, traute er sich nicht. Er ging hinter Sigi her.
Viktor Schweers rief: »Ohne mich! So was Verrücktes! Ohne mich!« Er lief den Berg hinunter.
Nur Wim und Karl gingen bis zum Startplatz mit. Die anderen verteilten sich längs der Bahn. Diesmal gab es keinen Streit um die Startplätze. Wim gab das Kommando: »Los!«
Sie schoben die Schlitten nur eben an. Die Spur war hier nicht glatt gefahren, aber die Steilwand riss die Schlitten in die Tiefe. Der lose Schnee wurde aufgepflügt und stäubte zu einer Wolke empor.
Sigi hatte alle Angst vergessen. Der Fahrtwind pfiff ihm um die Nase. Er versuchte nicht, die Fahrt des Schlittens zu bremsen. Er würde es ihnen schon zeigen!
Er schaute sich ganz kurz nach Hein um. Der lag hinter ihm, zwei, drei Längen zurück.
Da, eine Bodenwelle, hinüber! Der Schlitten hob sich vom Boden und krachte wieder auf den Schnee. Hielt Hein durch? Ja. Da, was machte Hein? Mitten während der tollen Fahrt legte er sich bäuchlings auf den Schlitten. Er wurde schneller, schob sich an Sigi vorbei! Noch waren es dreißig Meter bis zum Eis. Immer schneller wurde Heins Fahrt, schon lag er drei, vier Längen vorn. Sigi hörte das Geschrei der Kinder. Er hatte verloren. Heins Schlittenkufen schlugen auf das Eis. Klirrend sirrte der Ton über die Fläche hin. Jetzt war auch Sigi am Ziel. Wie ein Geschoss zischte der Schlitten über das Eis. »Stürzen!«, befahl er sich. Irrsinn bei diesem Tempo. Doch er riss den Schlitten auf die Seite, überschlug sich, einmal, zweimal. Er war noch ein wenig benommen, als er Viktors Geschrei wahrnahm. Vorsichtig bewegte er seine Arme, seine Beine. Ein Glück, dachte er, als sie sich ohne Schmerzen bewegen ließen.
Er rappelte sich auf. Jetzt erst verstand er, was Viktor herüberrief: »Der Hein! Der Hein ertrinkt!«
Sigi begriff sofort, was geschehen war. Hein hatte sich nicht getraut den Schlitten zu stürzen, war weit auf das Eis hinausgeschleudert worden und bei den Quellen eingebrochen. Die Bruchstelle blinkte schwarz. Wie eine zerschlagene Schaufensterscheibe sah sie aus. Am Rand des Loches versuchte sich Hein festzuklammern. Doch die Kante brach ihm unter den Händen. Immer wieder sank er tief in das Wasser.
Sigi griff nach seinem Schlitten. Er lag nicht weit von ihm entfernt. Die linke Kufe war eingedrückt. Ein Stück tappte Sigi auf die Bruchstelle zu. Er zog den Schlitten hinter sich her. Dann begann das Eis, unter seinen Füßen zu singen. Immer noch mochten es zwanzig Meter bis zum Eisloch sein.
»Halt aus, Hein!«, schrie er. »Ich hole dich.« Er konnte das verzerrte Gesicht genau erkennen. Angst, Todesangst spiegelte sich in Heins Augen. Sigi legte sich platt auf das Eis und schob den Schlitten vor sich her. Die Kufen zeigten nach oben. Langsam robbte er auf Hein zu. Der wollte sich hastig Sigi entgegenarbeiten, brach wieder ein und versank. Eine kleine Welle schwappte über ihm
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