Es gibt kein nächstes Mal
in dem Moment in den
Hof getreten wäre, um ihre Blumentöpfe zu bewundern.
25
Dezember 1951
Liebe Shirl,
es ist schon lange her, seit ich Dir das letzte
Mal geschrieben habe. Ich dachte, vielleicht fängt Dad die Briefe ab, und daher
habe ich aufgehört zu schreiben. Aber Du fehlst mir wirklich, Shirl. Ich
wünschte, Du würdest mir schreiben.
Im Sommer hat Laurie zwei Bilder verkauft, und
wir haben mit Freunden von ihm, die ebenfalls Maler sind, Ferien in Suffolk
gemacht. Sie wollten mich als Aktmodell haben (das heißt nackt, falls Du das
nicht wissen solltest). Es hat mir nichts ausgemacht, aber manchmal habe ich
ein komisches Gefühl dabei, daß mein nackter Körper im ganzen Land an den
Wänden hängt. Zumindest hatten wir schönes Wetter, und das kann ich jetzt nicht
gerade behaupten.
Die zusätzlichen Einnahmen haben wir schnell
verbraucht, und wir sind immer noch nicht in Paris gewesen. Aber eigentlich
macht mir das gar nichts aus. Mein Job gefällt mir recht gut. Nicht etwa, der
breiten Öffentlichkeit etwas zu essen vorzusetzen (das hätte ich zu Hause auch
haben können!), sondern wegen all dieser Leute, die ich durch die Arbeit
kennenlerne. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Bei uns arbeitet doch tatsächlich
ein Typ, der in einem Konzentrationslager gewesen ist, Shirl. Er hat seine Frau
und seine Kinder verloren, und er ist unglaublich traurig. Auch ein paar junge
Soldaten auf Heimaturlaub, die sich etwas dazuverdienen wollen, haben wir hier.
Mit denen hat man viel zu lachen, aber man muß sich auch vorsehen, weil einige
von ihnen ihre Finger nicht bei sich behalten können. Freunde habe ich hier
auch. Wir sind ein paarmal zusammen ins Kino gegangen.
Laurie hat mich eine Zeitlang verlassen. Ich
glaube, er ist zu seiner Frau zurückgegangen, denn als er zurückgekommen ist,
hatte er neue Sachen an. Vielleicht hast Du ihn gesehen? Aber vielleicht würde
er es auch nicht wagen, sich dort noch einmal blicken zu lassen. Jedenfalls
dachte ich mir, wenn Du ihn gesehen hättest, dann hättest Du Dich
wahrscheinlich gefragt, was wohl aus mir geworden ist, aber da ich nichts von
dir gehört habe, habe ich mir gesagt, daß Du ihn nicht gesehen hast. Um es Dir
ganz ehrlich zu sagen, Shirl, ich wußte wirklich nicht, was ich tun soll. Lange
Zeit habe ich nur dagesessen und geweint. Dann habe ich einfach so
weitergemacht wie bisher, und eines Abends, als ich nach Hause gekommen bin,
hat Laurie auf dem Bett gesessen und mich gebeten, ihm zu verzeihen. Ich liebe
ihn, Shirl. Ich konnte ihn nicht abweisen.
Laurie ist abends normalerweise nicht zu Hause,
weil er unterrichtet. Wenn ich Spätschicht habe, gehe ich hinterher nach Hause
und lege mich sofort ins Bett, aber wenn ich von der Frühschicht komme, gehe
ich statt dessen in die Bibliothek, weil es dort wärmer ist. Ich lese alles,
was ich über Kunstgeschichte finden kann.
Ich wünsche Dir und Ken ein fröhliches
Weihnachtsfest, Shirl.
Liebe Grüße von Estella
»Laurie scheint ein ziemlich übler Schuft
gewesen zu sein«, sagte Daisy, »meinst du nicht auch?«
Es war Samstag nachmittag. Sie saßen mitten in
Daisys riesigem Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem Fußboden, und jede von
ihnen hatte einen Packen Briefe neben sich liegen. Gemma hatte die Originale,
Daisy die Fotokopien. Sie lasen jeden der Briefe gleichzeitig. Drei Viertel
einer Pizza lagen unberührt in einer Kiste, die Reste ihres Mittagessens. Sie
waren derart in ihre Lektüre vertieft gewesen, daß keine von beiden großen
Appetit gehabt hatte.
»Ich nehme an, es muß alles sehr romantisch gewesen
sein«, erwiderte Gemma. »Glaubst du, daß in ihrem Album ein Foto von ihm ist?
Hast du das Album überhaupt noch?«
»Natürlich habe ich es noch.«
Daisy holte es.
Es war in Leder gebunden und so abgegriffen, daß
es wie eine Kastanie glänzte. Sie legte es auf den Fußboden und schlug es auf.
Das Foto von Estella in ihrem neuen Kleid, das ihre Optik gewaltig veränderte,
fiel heraus: »Mein Leben beginnt. Ich gehe von zu Hause fort.«
»Sie war so hübsch«, sagte Daisy. In ihren Augen
standen Tränen.
»Ja, das kann man wohl sagen.« Gemma nahm Daisys
Hand. »Im Grunde genommen hat sie genauso ausgesehen wie du, ehe du dir deine
Locken abgeschnitten hast«, sagte sie und kommentierte damit erstmals Daisys
neue Optik.
»Gefällt es dir nicht?« fragte Daisy nervös.
»Ich finde, es sieht wunderbar aus«, sagte Gemma
und lächelte sie an. »Es steht dir wirklich
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