Es ist niemals vorbei
Glas Wein trank ich nur zur Hälfte aus. Dann schloss ich die Augen.
Als ich sie wieder aufschlug, war es schon Morgen. Ich war immer noch müde. Meine diversen Ausbrüche vom Vortag waren mir jetzt sehr peinlich, denn mein Wutrausch war vollkommen verebbt. Ich war gekränkt, das ja, und auch entschlossen, mein Vorhaben durchzuziehen, aber mein Zorn war verraucht.
Als Erstes rief ich meine Mutter an. Sie sagte kaum etwas, verurteilte mich nicht und erklärte nur, sie könne meinen Entschluss verstehen. Ich stand auf und schob die Vorhänge zurück. Ein heller Sonnentag schien mir entgegen. Ich streifte ein Sommerkleid über und machte mich auf den Weg.
Unten in der Empfangshalle strömten Familien, Paare und ein paar Alleinstehende in Richtung des Palm Restaurant oder kehrten von daher zurück. Vor dem Restaurant stand ein Schild mit den Frühstücksspezialitäten. Aber ich hatte keinen Hunger, ich hatte eine Mission. Also steuerte ich die Dame an, die Nate am Empfang ersetzt hatte. Laut Namensschild hieß sie Tara.
«Entschuldigen Sie.» Ich schob das Foto über den Tresen. «Erkennen Sie diesen Mann wieder?»
Tara warf einen Blick auf das Foto und schüttelte den Kopf. «Nein, tut mir leid. Aber ich arbeite hier auch erst seit kurzem. Ist er einer der Stammgäste?»
«Das weiß ich leider nicht.»
«Ich könnte im Büro nachfragen. Darf ich das Foto mitnehmen?»
Ich nickte. Tara verschwand mit dem Foto durch eine Tür hinter dem Tresen. Ich dachte, obwohl es ein Sonntagmorgen und am Empfang noch ruhig war, hatten wir jetzt doch immerhin
Tag
. Folglich würde im Hotel mehr Personal tätig sein, und wenn ich Glück hatte, würde einer von ihnen den Mann auf dem Foto erkennen. Doch als Tara wenig später zurückkehrte, schüttelte sie den Kopf.
«Bedaure.»
Als Nächstes wandte ich mich an den Oberkellner des Palm Restaurant. Er war ein älterer Mann, der an der Tür hinter einem Pult stand und die Gäste begrüßte. Auf seinem Namensschild stand Raoul.
«Sie möchten einen Tisch für wie viele Personen?», fragte er zuvorkommend.
«Ich habe nur eine Frage.» Ich zeigte Raoul das Foto. «Haben Sie diesen Mann hier schon einmal gesehen?»
Raouls Lächeln schwand. Seine Miene war plötzlich argwöhnisch.
«Dürfte ich fragen, wer Sie sind?»
«Die Ehefrau. Mein Mann wird seit vier Monaten vermisst. Ich suche nach ihm.»
Raouls Stirn legte sich in missmutige Falten. «Ja, glauben Sie denn, ich könnte mich an jeden erinnern, der hier vorbeiläuft?»
«Auf dem Foto sieht er vielleicht ein wenig anders aus.» Ich versuchte, einnehmend zu lächeln, denn Raoul hatte dem Foto kaum einen Blick geschenkt. «In der Familie sind wir uns nicht einig. Ein paar von uns glauben, er hätte sich umgebracht, aber wie will man das denn wissen ohne Leichnam –?»
Raoul richtete seine Aufmerksamkeit auf ein Paar, das hinter mir im Türrahmen aufgetaucht war. «Tisch für wie viele Personen?» Ich trat zur Seite und wartete.
«Für zwei.»
Raoul zog zwei überdimensionierte Frühstückskarten aus einem Ständer und führte das Paar zu einem freien Tisch. Ich schaute ihnen nach. Raoul versuchte seinen Körper gerade zu halten, aber er ging etwas schief, so als habe er ein Hüftleiden. Als er zurückkehrte, betrachtete er das Foto genauer.
«Das wurde hier in der Bar aufgenommen.» Er reichte mir das Foto zurück. «Warum fragen Sie
dort
nicht nach?»
«Aber es ist doch erst halb zehn.»
«Ja, und?»
Ich bedankte mich und durchquerte die Empfangshalle zu einer Tür mit Milchglasscheibe. In gefrästen Buchstaben stand darauf
The Collins Bar
und darunter
Tag und Nacht geöffnet
. Die Tür war angelehnt, und innen brannte Licht. Ich trat ein. Die Bar war leer. Nur der Barmann lächelte mir entgegen.
«Was darf’s denn sein?»
Ich zeigte ihm das Foto und sagte mein Sprüchlein auf.
Bill – so hieß der Mann laut Namensschild – strich sich über seinen schwarzen Schnurrbart und studierte das Foto für eine Weile. Dann seufzte er. «Den Mann kenne ich nicht. Aber ich weiß, dass das Foto nach siebzehn Uhr aufgenommen worden sein muss. Dann wird nämlich das Licht gedämpft. Bringt die Leute in Stimmung.» Schmunzelnd reichte er mir das Foto zurück. «In der Regel arbeite ich tagsüber. Vielleicht kommen Sie später wieder und versuchen Ihr Glück bei der Nachtschicht.»
«Gut. Vielen Dank.»
Enttäuscht kehrte ich in die Empfangshalle zurück, ließ mich in einen Sessel fallen und überlegte, was ich nun tun
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