Es ist niemals vorbei
Irre, die verzweifelt glauben wollte, ihr toter Mann sei noch am Leben.
Am späten Nachmittag wechselte die Schicht. Die Bar hatte sich inzwischen gefüllt. Ich setzte mich auf einen freien Hocker an der Theke, bestellte einen Cocktail, trank und wartete dann darauf, dass «Roy» – ein drahtiger Afroamerikaner mit kurzen, abstehenden Dreadlocks und Ohrringen – wieder zu mir kam.
«Dasselbe nochmal?»
«Ja.» Roy brachte mein Getränk. «Darf ich Sie etwas fragen?» Ich zückte mein Foto. «Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?»
«Hm. Sieht aus wie der neue Hoteleigentümer.»
«Er hat das Collins
gekauft
?»
«Sie hat es gekauft. Ana Maria Irgendwas. Bin der Dame nur ein einziges Mal begegnet.»
«Ja aber, unterschreibt sie denn Ihre Lohnüberweisungen nicht?»
«Da steht nur der Name des Unternehmens. Riviera Inc. oder so.» Offenbar konnte sich Roy Namen nicht gut merken.
Der junge Mann im Smoking auf meinem Nachbarhocker drehte sich zu uns um. Anscheinend hatte er Lust, an unserem Frage-und-Antwort-Spiel teilzunehmen. Er sah gut aus und war etwa Mitte zwanzig, aber die gelglänzenden, schwarzgefärbten Haare, der dunkle Lidstrich und das übernächtigte Gesicht ließen ihn älter wirken. Zum Glück hatte Lindsay ihre alte Tante Karin vor kurzem in epischer Länge und Breite über das aufgeklärt, was derzeit «hip und cool» war. Mein Nachbar war ein «Emo», ganz ohne Frage. Ich entsann mich, dass es für hyperemotional und hypersensibel stand.
«Der Laden heißt Soliz Riviera Enterprises», sagte «Emo» und musste aufstoßen. Ein Schwall Whiskydunst wehte zu mir herüber, und ich hielt ein paar Sekunden lang den Atem an.
Roy deutete ein Nicken an und wollte sich schon verziehen, doch Emo hatte noch nicht genug und schob sein leeres Glas über die Theke. Roy wirkte unschlüssig, aber dann schnappte er sich das Glas und kehrte mit einem neuen Drink zurück. «Das ist aber dein letzter», raunte er Emo zu. «In einer Stunde bist du dran.»
«Ist es nicht süß, wie er sich um mich sorgt?», fragte Emo schwerfällig.
Roy hatte sich abgewandt und stand mit dem Rücken zu uns, reglos und mit steifem Nacken, so wie man aussieht, wenn man lauscht. Dann gab er sich einen Ruck und trat auf den nächsten Bargast zu.
«Warum suchen Sie nach diesem Mann?», erkundigte sich mein Nachbar und tippte auf das Foto. Er nahm es auf und schaute es sich aus der Nähe an. «Ich heiße übrigens Ethan.»
«Karin. Arbeiten Sie hier oder so?»
«Ich bin die abendliche Musikuntermalung.»
Aha, daher auch der Smoking und die Schminke. Ich dachte an den Stutzflügel, der in einer verspiegelten Ecke der Lounge stand.
«Sind Sie der Klavierspieler?»
«Der
Pianist
.» Er nahm einen langen Schluck. «Okay, der Klavierspieler, was soll’s?»
«Ich wollte Sie nicht beleidigen.»
«Schon gut. Also, was ist mit dem Typ auf dem Foto?»
«Er ist mein Mann.»
«Ach, dann ist er
verheiratet
.» Ethan nickte, als dämmerte ihm etwas.
«Warum sagen Sie das so komisch?»
Ethan zuckte mit den Schultern. «Weil sie immer sauer auf ihn ist. Sieht aus, als könnte er ihr nie etwas recht machen.»
Heiße Wut wallte in mir auf.
«Aber wieso hat dann niemand die beiden erkannt? Ich habe das Foto hier überall herumgezeigt.»
«Weil ihr der Laden erst seit kurzem gehört. Wenn sie kommt, dann abends. Die Leute von der Tagesschicht kennen sie sicher noch gar nicht.»
«Wissen Sie, ob die beiden hier im Hotel wohnen?» Mein Magen verkrampfte sich. Wenn Mac und diese Frau im Collins wohnten und sich nur abends sehen ließen, dann könnten sie hier jeden Augenblick auftauchen.
«Ich weiß nur, dass sie in Mexiko lebt und vor einer Weile hergekommen ist, um hier nachzuschauen, ob alles läuft.» Ethan leerte sein Glas und setzte es mit einem Knall auf der Theke ab. Roy und sein Kollege sahen zu uns herüber. Roy flüsterte dem anderen etwas zu.
«Die beiden hassen mich», erklärte Ethan.
«Wo in Mexiko?»
«Playa del Carmen, im Süden von Cancún. Im Gegensatz zu
Roy
», ergänzte Ethan laut und betont, «prüfe ich meine Gehaltsabrechnung. Ms Soliz hat da unten gerade ein neues Hotel bauen lassen. Das Riviera Maya Palace.»
«Und woher wissen Sie das alles?»
«Google. Wenn mir langweilig ist, stöbere ich im Internet herum.»
«Und was wissen Sie über ihn?» Ich tippte auf den Mann auf dem Foto.
«So gut wie nichts. Anscheinend ist er mit ihr nach Mexiko geflogen, denn als sie weg war, habe ich ihn auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher