Es ist niemals vorbei
dort.»
«Sunset Park», antwortete der mit dem Gewehr. «Cousin.»
«Maul halten», sagte der Fahrer, ohne ihn anzuschauen.
In den Augen des Schützen loderte etwas auf, aber er schwieg. Nach einer Weile erreichten wir eine heruntergekommene Wohngegend. Es war heller Tag, und ich saß hinten in einem Wagen und wurde für jedermann sichtbar mit einer Waffe bedroht. Mein Blick huschte nach links und rechts, in der Hoffnung, dass einer der Menschen da draußen auf mich aufmerksam wurde, die Gefahr erkannte und die Polizei verständigte. Als hätte er meine Gedanken gelesen, fing der Typ mit dem Gewehr an zu grinsen und schob die Mündung noch näher an mein Gesicht.
Am Straßenrand saß ein Mann auf einer Plastikkiste. Als er den Fahrer erkannte, tippte er zum Gruß an seinen zerfledderten Sonnenhut. Der Fahrer nickte ihm zu. Eine abgezehrte Frau in schmutziger Jeans und einem T-Shirt der Yankees lächelte und winkte. Der Schütze auf dem Beifahrersitz winkte mit seinem Gewehr zurück. Zwei kleine Jungen – Zwillinge mit verdreckten Gesichtern – sprangen auf und ab und riefen fröhlich
hola
, als sie unseren Wagen sahen.
Wir passierten ein kleines, adrettes Gebäude mit weißverputzter Fassade. Auf einem der Fenster stand in blauer Farbe
La Policía
geschrieben. Der Fahrer drosselte das Tempo. An der Außenmauer lehnte ein Uniformierter, der uns gleichmütig mit dem Blick folgte. Die Botschaft war deutlich: Er war hier nur Zuschauer. Weder in meiner Zeit als Polizistin noch später als Opfer hatte ich jemals etwas dermaßen Surreales erlebt. Hier steckten die Entführer, die Bewohner dieser Gegend und die Polizei allesamt unter einer Decke! Niemand würde mir hier helfen.
Es wurde immer heißer, je länger wir durch diese endlos wirkende Ansammlung ärmlicher Hütten fuhren, und dennoch überlief mich ein Frösteln. Um mich zu wärmen, rieb ich mir die nackten Arme – und spürte einen Knubbel in der linken Armbeuge. Als ich den Arm öffnete, entdeckte ich so etwas wie einen Abszess. In der Mitte befand sich ein grober Einstich, als hätte man eilig eine Nadel hineingejagt. Er schien sich infiziert zu haben. Ich spuckte in meine rechte Hand und versuchte, den Eiter und die Kruste zu entfernen.
Plötzlich hob sich der Nebel, der sich auf meine Erinnerung gelegt hatte. In der Höhle hatte ich geschlafen, jedes Zeitgefühl verloren, und beim Aufwachen hatte mein Gesicht gejuckt. Trotzdem hatte ich mich im ersten Augenblick nicht schlecht gefühlt und einige Zeit gebraucht, bis ich begriffen hatte, in welcher Lage ich mich befand. Also musste mir jemand eine Spritze verpasst und mich unter Drogen gesetzt haben. Apropos Drogen. Hatten die Menschen, denen wir begegnet waren, nicht wie Drogensüchtige gewirkt? Die ausgemergelte Frau mit dem Yankees-T-Shirt, der teilnahmslose Polizist, die ganze Bande der gleichgültigen Bewohner? Ich selbst hatte nie Drogen genommen, schon gar kein Heroin, aber in meiner Zeit bei der Polizei hatte ich genügend Junkies erlebt und kannte die Symptome. Wieder musste ich den Brechreiz niederkämpfen. Matt schloss ich die Augen. Wir rumpelten wieder über einen ausgefahrenen Feldweg.
Dann hielt der Wagen an, und ich öffnete die Augen. Wir standen vor einem gelbverputzten Herrenhaus mit einer Markise über dem Säuleneingang, flankiert von wuchtigen Blumentöpfen, in denen üppige Hibiskussträucher wuchsen. Der Fahrer und der Schütze zerrten mich aus dem Wagen und schleppten mich ein paar Schritte zu einem Van hinüber, dessen Laderaum keine Fenster hatte. Ich warf einen Blick zurück. Das Haus sollte offenbar einen jahrhundertealten und ehrwürdigen Eindruck machen, aber es war ganz neu errichtet worden, das konnte man erkennen. Dahinter schien das Meer zu liegen, denn ich hörte das leise Rauschen der Brandung, und ein schwüler Wind trug Salzgeruch herbei.
Es dauerte nicht lange, ehe der zweite Wagen hinter uns bremste und Mac ebenso grob wie ich zuvor herausgezerrt wurde. Er sprach mit den Männern auf Spanisch und redete sie mit ihren Namen an.
Jetzt trat ein junger Mann in Jeans und weißem Hemd aus dem Haus. Auch er hatte eine tätowierte Dahlie, allerdings am Hals. Sie war ein wenig größer als die der anderen, und das Lavendelblau wirkte heller und leuchtender. Dazu trug er eine Kette mit einem großen goldenen Kruzifix. Überhaupt war er größer, schlanker und hellhäutiger als die anderen vier, die allesamt gedrungen und muskulös waren und an deren Gesichtszügen
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