Es muß nicht immer Kaviar sein
weiß Major Débras von den Plänen und würde sie vermissen. Die Herren Lovejoy und Loos jedoch wissen nichts von ihrer Existenz, die wollen nur die Listen. Und Listen sollen sie haben …
Er sah die sechs Schreibmaschinenbogen an. Sie nannten die Namen der Offiziere und zivilen Angehörigen des »Deuxième Bureau«, von französischen Agenten in Deutschland, von Vertrauenspersonen in Deutschland und Frankreich – 117 Namen insgesamt.
Hinter den Namen standen die Adressen. Und hinter den Adressen standen jeweils zwei Sätze. Mit dem ersten war der Agent anzusprechen. Mit dem zweiten hatte der Agent zu antworten. Erst dann konnte man sicher sein, es mit ihm persönlich und keinem anderen zu tun zu haben.
Thomas Lieven las zum Beispiel: Willibald Lohr, Düsseldorf, Sedanstraße 34; 1. »Haben Sie vielleicht einen kleinen grauen Zwergpudel mit rotem Halsband gesehen?« 2. »Nein, aber in Lichtenbroich draußen wird noch Honig verkauft.«
Adolf Kunze-Wilke, Berlin-Grunewald, Bismarckallee 145; 1. »Sind das Ihre Tauben auf dem kupferfarbenen Dach des Gartenhäuschens?« 2. »Lenken Sie nicht ab. Ihre Garderobe ist nicht in Ordnung.«
Und so weiter.
Thomas schüttelte den Kopf und seufzte. Dann spannte er einen Bogen in die neue Schreibmaschine und entfaltete einen Stadtplan von Frankfurt am Main. Aus dem Münchner Telefonbuch hatte er unter anderen den Namen Friedrich Kesselhuth gewählt.
Diesen Namen tippte er nun, dann beugte er sich über den Stadtplan von Frankfurt.
Nehmen wir mal die Erlenstraße, dachte er. Die Erlenstraße lag an der Mainzer Landstraße. Es war eine kurze Straße. Thomas sah nach dem Kartenmaßstab – 1:16 000.
Wie viele Häuser können in der Erlenstraße stehen? überlegte Thomas. Dreißig. Vierzig. Aber niemals sechzig. Trotzdem. Sicher ist sicher.
Er tippte: Friedrich Kesselhuth, Frankfurt am Main, Erlenstraße 77. Und dahinter: 1. »Hat die kleine Verkäuferin bei Fechenheim eigentlich blonde oder schwarze Haare?« 2. »Sie müssen den Harzer Roller rasch essen, er verpestet die Luft.«
So, der nächste!
Einen Herrn Paul Giggenheimer aus Hamburg-Altona transportierte Thomas nach Düsseldorf in das Haus 51 der äußerst kurzen Rubensstraße. 1. »Galsworthy wurde 66 Jahre alt.« 2. »Wir müssen unsere Kolonien wiederhaben.«
Das wäre Nummer zwei, dachte Thomas Lieven. Jetzt brauche ich noch einhundertfünfzehn. Und den ganzen Mist muß ich dreimal tippen. Für Lovejoy. Für Loos. Für Débras. Ganz hübsche Arbeit. Wird aber auch gut bezahlt!
Er tippte weiter. Nach einer halben Stunde überfiel ihn plötzlich lähmende Niedergeschlagenheit. Er ging zum Fenster und sah in den Park hinab.
Verflucht noch mal, dachte er, so geht das ja überhaupt nicht!
Ich habe mir vorgenommen, die echten Listen aus der Welt zu schaffen, weil sie nur neues Unheil anrichten können, egal, wer sie bekommt, die Deutschen, die Engländer oder die Franzosen. Ich will nicht, daß durch diese Listen noch mehr Menschen sterben.
Andererseits will ich mich an all den Idioten rächen, die mein Leben zerstört haben. Aber räche ich mich so wirklich an ihnen? Verhindere ich so wirklich, daß neues Unheil angerichtet wird?
Wenn die Franzosen und die Engländer mit meinen gefälschten Listen arbeiten wollen, werden sie feststellen, daß nichts stimmt. Das wäre gut so! Aber die Deutschen!
Nehmen wir an, es gibt einen Namensvetter des Münchners Friedrich Kesselhuth in Frankfurt, er hat nur einfach kein Telefon. Oder nehmen wir an, die Erlenstraße in Frankfurt ist inzwischen verlängert worden, es gibt dort jetzt wirklich ein Haus Nr. 77 – die Gestapo wird alle Männer namens Kesselhuth holen. Man wird sie quälen, einsperren, töten …
Und das ist erst ein Name und eine Adresse. Und 116 andere stehen auf den Listen!
Vielleicht merken die Herren der drei Geheimdienste, daß ich sie hereingelegt habe, und werfen die Listen fort. Vielleicht sind sie wenigstens so intelligent. Ach, nach allem, was ich bisher erlebt habe, darf ich mich
darauf
nicht verlassen!
Aber verflucht, am 3. September kommt Débras und will die Tasche haben. Was mache ich bloß?
Wie einfach ist es, Menschen zu verraten und zu töten. Und wie umständlich, wie mühevoll ist es doch, Menschen zu bewahren und zu beschützen vor Schmerz, Verfolgung und Tod …
3
Das Telefon klingelte.
Thomas Lieven schrak aus seinen Gedanken auf und nahm den Hörer ans Ohr. Er schloß die Augen, als er die bekannte Stimme vernahm: »Hier
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