Es sterben immer drei
langen Zügel einen eigenen Weg suchen. Stella folgte ihr.
Angelina entfaltete ein Talent als gelenkiges Klettertier, ihre Reiterin brauchte sich nur, wenig sportlich, am Sattelriemen festzuhalten, bis sie sicher einen ehemals gerodeten Platz in der Macchia erreichten, etwa in der Größe eines Fußballfeldes, der aber inzwischen fast schon wieder zugewachsen war. Es gab nichts zu sehen außer den völlig verwitterten Resten einer Bretterbude. Hätte Marlene nicht von einer Schießanlage gesprochen, wäre die nur von einem Archäologen als solche erkannt worden. Vor dreißig Jahren hatte ein belgischer Rentner sie aus freizeitgestalterischen Gründen angelegt, berichtete Marlene, weil er in seinem Alterssitz auf einem nahe gelegenen Hügel vor Langeweile fast verrückt geworden war. Eine Zeitlang vergnügten sich an den Wochenenden die Einheimischen und fast alle Ferienhausbesitzer auf dem Tontaubenschießplatz. Er war zum wichtigsten sozialen Treffpunkt der Gegend geworden, man hatte Wettbewerbe ausgetragen, gefeiert, getanzt und gelacht und eine Generation Einwohner hatte sich zu hervorragenden Schützenentwickelt. Vielleicht lag es den Bauern im Blut, schließlich hatten sie einen Ruf als Singvogelkiller zu verteidigen, da würden sie ja wohl noch Tonscheiben treffen. Trotzdem, als der Belgier wieder zurück nach Hause floh und sein Anwesen verkaufte, verfiel die Anlage. Niemand kümmerte sich mehr darum, keiner brachte die Energie auf, Wettbewerbe zu organisieren, und nach zwei, drei lustlosen Saisons war die Sache vorbei. Kleemann bedauere das immer noch, sagte Marlene, schließlich hätten er und Katharina es sogar ab und zu erfolgreich geschafft, das Image Deutschlands als vorbildliche Militärnation zu verteidigen.
»Und Jochen?«, fragte Stella, der augenblicklich das zerrissene Foto in Katharinas Papierkorb einfiel. Sie hätte es gern erwähnt, aber so etwas wie Vorsicht hielt sie zurück. Über Jochen wusste Marlene nicht Bescheid.
»Der war der Eifrigste.« Wie ein Geist in einem Fantasyfilm tauchte plötzlich Andreas auf einem Pferd aus dem Wald hinter ihnen auf und mischte sich so lässig in das Gespräch ein, als hätte er ihnen zugehört und auf die günstigste Gelegenheit gewartet, endlich auch einen Wortbeitrag liefern zu dürfen. Wenn er ihnen gefolgt war, noch dazu reitend, war ihm das so lautlos gelungen, dass er damit die Prüfung fürs Pfadfinderabzeichen mit Auszeichnung bestanden hätte. Stella und Marlene schauten ihn beide sprachlos an. Nicht erschrocken, aber verwundert. Er tat, als würde er ihr Erstaunen nicht bemerken. »Sogar Renate hat auf Tontauben geschossen. Wenn auch stümperhaft. Katharina war mit Abstand die Beste. Jochen bloß der Ehrgeizigste.«
»Was machst du denn hier?« Marlene fand als Erste ihre Sprache wieder.
»Dasselbe wie ihr. Ausreiten.« Andreas saß auf einem besonders schönen Pferd, das konnte auch ein Laie mit wenig Sachverstand erkennen, einem nicht sehr großen, aber eleganten Rappen mit edlem Kopf und geschmeidigen Bewegungen. Sein Reiter schien sich für ihn extra schick gemacht zu haben, in weißen Hosen, auf Hochglanz polierten Stiefeln und einemschwarzen Jackett. Nur das Plastron fehlte, und er hätte es bei der Olympiade mit Josef Neckermann aufnehmen können. Er konnte reiten, auch das war auf den ersten Blick klar. Lässig und trotzdem kontrolliert stellte er sich neben die beiden anderen Pferde, ohne ersichtliche Hilfe von Zügel oder Beinen. Der Rappe kaute auf seinem Gebiss, kleine Spuckeschaumwolken stoben um seine Nüstern, aber er tat keinen Mucks, nur seine Ohren bewegten sich. Das Pferd stand Andreas gut. Er sah plötzlich schon viel weniger langweilig aus.
»Das ist doch Modigliani«, sagte Marlene.
Andreas nickte. »Jochen hat mich gebeten, ihn zu bewegen. Das Pferd kann ja nichts dafür, dass seine Besitzerin ermordet wurde.«
»Schönes Pferd«, meinte Stella.
»Trakehner.« Andreas tätschelte dem Rappen liebevoll den Hals. »Erste Sahne.«
»Um ehrlich zu sein, viel zu schade für Valerie. Der braucht einen erstklassigen Reiter. Andreas war baden-württembergischer Meister in der Vielseitigkeit«, informierte Marlene Stella.
»Ich hätte es bis in die deutsche Nationalmannschaft geschafft. Aber die Praxis ging vor.« Andreas klang fast so, als ob er die Entscheidung bis heute bereuen würde. »Also bis dann.« Er setzte sich in Bewegung und war nach ein paar Minuten wieder vom Wald verschluckt, als sei er nie da
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