Es sterben immer drei
genau konnte sie sich nicht erinnern. Jochens Raum war der größte von allen, mit hohen, weißen Wänden, überwölbt von einem imposanten Dachgebälk. Nach Westen ein Fenster, so groß wie eine Kinoleinwand. Statt der ausrangierten Flohmarktware, mit der die anderen ihre Zimmer ausgestattet hatten, brauchte Jochen eine repräsentative Mischung aus kantigem Ledersofa, Jugendstilbett und Kelims, um sich angemessen untergebracht zu fühlen. Selbstverständlich alles penibel aufgeräumt, als ob er jeden Moment Besuch erwarten würde. Sie fragte sich, wer das erledigte, und nahm an, eine Putzfrau. Keinerlei Spuren von Valerie. Zuerst vorsichtig, dann immer sorgloser öffnete Stella alles, was es in diesem Zimmer zum Öffnen gab. Schrank, Nachttische und eine Kommode mit exquisiten Einlegearbeiten, japanische Lackkästchen und Dosen, winzige Schubladen an einem Sekretär zwischen zwei Glastüren, die beide auf eine Terrasse nur für Jochen hinausgingen, die verspiegelten Schränke in seinem persönlichen Badezimmer, selbst den Klodeckel. Stella konnte esnicht glauben. Valerie war kaum eine Woche tot und der Mann, den sie heiraten wollte, hatte jede Erinnerung an sie schon aus seinem Leben verbannt. Oder hatte er sie vielleicht nie wirklich in sein Leben hineingelassen? Welche Auswirkungen die Anwesenheit der Gattin, selbst wenn sie nur in Ei-Tempera über dem Bett hing, auf das Sexleben der beiden hatte, konnte Stella sich nicht vorstellen. Bei Valerie konnte man nie wissen. Vielleicht törnte es sie an. Im angrenzenden Ankleidezimmer hingen Jochens Maßanzüge. Wozu brauchte er die in den Ferien? Außerdem Kaschmirpullover, T-Shirts, Jeans und Unterwäsche, penibel gefaltete Taschentücher aus Stoff, Krawatten, ausschließlich schwarze Socken. Garantiert nicht von Rudis Resterampe. Er holte sich Anregungen aus amerikanischen Wirtschaftsbüchern von Börsengurus und Topmanagern und versuchte mit Männerkosmetik von Gucci, Tages- und Nachtcreme, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen. Was für ein gruseliger Perfektionist von einem Mann, dachte Stella. Fast verbissen wühlte sie sich durch seine Sachen. Auf der Suche nach etwas, irgendetwas, das ihn verraten hätte. Wobei sie noch nicht einmal wusste, was ihn hätte verraten können. Aber irgendetwas musste es geben, das nicht in sein Bild von sich hineinpasste. Nichts.
Sie öffnete noch eine Tür an der Rückwand des Zimmers, äußerst behutsam, weil sie nicht wusste, was sie erwartete. In einem von Irmas Krimis würde sich dahinter eine Folterkammer verbergen, mit ledernen Masken, Streckbetten, Peitschen und anderen unangenehmen sadistischen Werkzeugen, und unter den Dielenbrettern würde der süßliche Geruch dort gebunkerter Mädchenleichen der Hauptfigur schon einmal eine Ahnung ihres unmittelbar bevorstehenden Schicksals geben. In einer Nische versteckt lauerte der Bösewicht, mit Nylonseilen und profunden Kenntnissen in Würgetechniken, mittels derer es ihm gelänge, auch die Heldin aufs Folterbett zu zwingen, wo er dann, bevor er zur Tat schritt, von einem unwiderstehlichen Bekenntnisdrang getrieben, alle Zusammenhänge erklären würde.Und so weiter. Bis zur Errettung der Heldin in letzter Sekunde durch glückliche Umstände oder die Polizei.
Natürlich fand Stella nichts davon, als sie sich die hölzerne Wendeltreppe nach unten vorgewagt hatte. Jochen döste immer noch auf der Gemeinschaftsterrasse, ein beruhigender Gedanke. Zögernd betrat sie ein relativ kleines Zimmer. Stella sah dem zirbelholzgetäfelten Raum sofort an, um was es sich handelte. Jagdstüberl hieß das im oberbayerischen Raum, gedacht für lauschige Abende mit gleichgesinnten Freunden, an denen inmitten stimulierender Insignien wie Geweihen, Gewehrschränken, Belegfotos von kapitalen Böcken und Ähnlichem, allerfeinstes Jägerlatein gesponnen wurde. Angefeuert von dem Genuss des erlegten Wildbrets und etlichen Schnäpsen. So zumindest hatte sie das aus ihrer Kindheit in Erinnerung. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass mitteleuropäische Waidmänner auch fünfundzwanzig Jahre später noch diese Tradition pflegten. Auf dem gedrechselten quadratischen Esstisch in der Ecke schien er sich bei der Lektüre von ›Wild und Hund‹ oder ›Die deutsche Jagdzeitung‹ das nötige Fachwissen anzueignen. Auch ein englischer Bildband mit liebevoll fotografierten Bildern von schön altmodischen Jagdbüchsen der Marke Holland & Holland zeugte von Interesse an gehobener waidmännischer Lebensart.
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