Es sterben immer drei
mit Bankern, Steuerberatern und Mama nach zu urteilen, entsprach diese Selbsteinschätzung der Wahrheit. Stella mochte vielleicht ihren merkwürdigen Drang zur Ehrlichkeit nicht im Griff haben, ihr Konto war dafür aber in Ordnung. Mangels Masse schön übersichtlich, das mochte sein. Vielleicht aber, dachte sie, hat einfach jeder Mensch seine speziellen, aufgeräumten Bereiche. Bei Valerie war es der Umgang mit Männern gewesen. Da handelte sie mit einer taktischen Kühle und Raffinesse, die sie im restlichen Leben nicht zustande brachte. Ihr Schicksal deutete allerdings darauf hin, dass sie zuletzt auch da die Übersicht verloren hatte. Oder zumindest überlebensnotwendige Instinkte.
Als Valerie anfing, gezielt reiche Männer abzuschleppen, geschah das aus einem gewissen Spieltrieb heraus. Das Geld, das diese Liebhaber ihr zusteckten, weil sie glaubten, einer niedlichen, aber ein bisschen durchgeknallten Adeligen unter die Arme zu greifen, nahm sie selbstverständlich und schämte sich nie dafür, dass es auch als Bezahlung für eine Nutte gelten konnte. Leicht verdientes Geld, das sie sofort wieder ausgab, für Klamotten, Reisen, ihr Auto, ihr Pferd und was sonst noch zum Lebensstil einer jungen Frau gehörte, die in einem Schlossaufgewachsen war und dachte, das alles müsse so sein. Erst als sie zu Jochen zog, schien ihr unstetes Leben in konventionellere Bahnen zu münden.
Stella erinnerte sich an Valeries Anruf mit der triumphierenden Botschaft, endlich habe ein richtig dicker Fisch angebissen. »Dieser Widerling«, war Stellas impulsive Reaktion gewesen. Valerie lachte darüber. Nichts an ihm konnte ihre Begeisterung dämpfen. Weder, dass er 20 Jahre älter war, noch dass er auch zuhause dazu neigte, Aufgaben im Befehlston zu delegieren, seine Lebensgefährtin herumscheuchte wie seine Sekretärin und die Worte bitte und danke aus seinem Vokabular gestrichen hatte. Das würde sie ihm mit der Zeit alles abgewöhnen. »Außerdem ist er sowieso meistens unterwegs, dann mache ich, was ich will. Hauptsache er bezahlt die Rechnungen.« Hatte der Widerling jetzt die letzte noch offene Rechnung beglichen?
»Es ist möglich, dass ich mich blamiere. Indes ist dann immer mit einiger Dialektik zu helfen. Ich habe natürlich meine Aufstellungen so gehalten, dass ich im umgekehrten Fall auch recht habe«, deklamierte der Taxifahrer und ließ im Überschwang der Gefühle das Steuerrad mit beiden Händen los.
Stella schaute ihn geistesabwesend an.
Er interpretierte ihren Blick falsch. »Briefwechsel Marx an Lenin«, fügte er als Fußnote hinzu.
Die Welt war ein Irrenhaus. Hörte das denn nie auf, die unendlichen Verwicklungen, die das Leben zu einem einzigen großen Verwirrspiel machten, einem Kuddelmuddel, in dem man umherirrte, ohne dass irgendwo eine Tür mit der Aufschrift Exit aufleuchtete. Na ja, ganz am Ende schon, aber da ließ man sich schon längst ergeben treiben im Strudel der Ereignisse, im tourbillon de la vie , wie eine Wasserleiche. Ob Jochen von Valeries Verhältnis mit Luca wusste?
»Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen undüberlieferten Umständen.« Der Taxifahrer plapperte stillvergnügt vor sich hin. Zufrieden mit der physischen Anwesenheit eines anderen, ohne auch noch seine geistige Anwesenheit zu fordern. Vielleicht war er deswegen Taxifahrer geworden, damit er wenigstens die Illusion haben konnte, dass ihm jemand zuhörte bei seinen Selbstgesprächen.
»Können Sie eigentlich Italienisch?«, fragte Stella ihn, nur um seine Marx-Zitate abzustellen. Er war fast beleidigt. »Naturalmente.« Draußen flogen die Kastanienwälder vorbei, ohne dass Stella erkennen konnte, ob es dieselben waren wie auf der Hinfahrt mit Lucas Moto Guzzi. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden. Sie kannte nur das Dorf mit dem Schloss der Contessa. Den Weg zu Ottos Haus würde sie von dort aus rekonstruieren können. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als auf den Taxifahrer zu vertrauen, der bei der Erwähnung des Ortsnamens kompetent genickt hatte. War ihm bekannt. Er fuhr ohne Navi, was zusätzlich zur Spannung beitrug. Ob er den Ort tatsächlich erwischen würde? Im Notfall musste er eben anhalten und fragen. Aber noch machte er den Eindruck, als wüsste er, wo es langging.
Nur einen Moment später hielt das Taxi mit quietschenden Reifen an einer Abzweigung.
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