Es stirbt in mir
Nicht schön, aber irgendwie interessant. Offenbar findet sie mich ebenfalls nicht uninteressant, denn sie lächelt mir zu und fragt: »Möchtest du mit mir nach Hause gehen?«
»Ich bin doch gerade erst gekommen.«
»Später. Später. Hat keine Eile. Du siehst aus, als würde es Spaß machen, mit dir zu bumsen.«
»Sagst du das jedem Mann, den du kennenlernst?«
»Wir haben uns noch nicht kennengelernt«, berichtigt sie. »Und – nein, das sage ich nicht zu jedem Mann. Aber zu vielen. Was ist dabei? Heutzutage dürfen auch Frauen die Initiative ergreifen. Außerdem haben wir heuer ein Schaltjahr. Bist du ein Dichter?«
»Nicht direkt.«
»Du siehst aber wie einer aus. Ich möchte wetten, du bist sensibel und mußt viel leiden.« Mein ewiger, vertrauter Traum, hier, vor meinen Augen, Wirklichkeit geworden! Ihre Augen sind rot gerändert. Sie ist stockblau. Ihrem schwarzen Pullover entströmt ein umwerfender stechender Schweißgeruch. Ihre Beine sind zu kurz für ihren Körper, ihre Hüften zu breit, ihre Brüste zu schwer. Wahrscheinlich hat sie die Syphilis. Macht sie sich über mich lustig? Ich möchte wetten, du bist sensibel und mußt viel leiden. Bist du ein Dichter? Ich versuche, ihre Gedanken zu lesen, aber es ist zwecklos; die Erschöpfung macht es unmöglich, und der kollektive Lärm der Masse der Partygäste übertönt jetzt den individuellen Output. »Wie heißt du?« fragt sie.
»David Selig.«
»Lisa Holstein. Ich bin im letzten Jahr in Barn…«
» Holstein? « Der Name reißt mich aus der Erschöpfung. Kitty, Kitty, Kitty! »Hast du Holstein gesagt?«
»Ja, Holstein. Und komm mir bitte nicht mit Kuhwitzen!«
»Hast du eine Schwester namens Kitty? Catherine, glaube ich. Kitty Holstein. Ungefähr fünfunddreißig Jahre alt. Deine Schwester, vielleicht auch eine Cousine…«
»Nein. Nie von ihr gehört. Ist das jemand, den du kennst?«
»Den ich kannte«, berichtige ich. »Kitty Holstein.« Ich nehme mein Glas und wende mich ab.
»He«, ruft sie mir nach, »glaubst du vielleicht, ich habe nur Spaß gemacht? Willst du nun heute mit mir nach Hause gehen oder nicht?«
Sonntag. Schwerer Kater. Hasch, Rum, Wein, Pot und Gott weiß was sonst noch alles. Und gegen zwei Uhr morgens Amylnitrit, das mir jemand unter die Nase hielt. Diese Scheiß-Party! Nie hätte ich hingehen sollen. Mein Kopf, mein Kopf, mein Kopf. Wo ist die Schreibmaschine? Ich muß arbeiten. Also los:
An diesem Beispiel sehen wir also, wie unterschiedlich die drei Tragödiendichter denselben Stoff behandeln. Aischylos befaßt sich vor allem mit den theologischen Aspekten des Verbrechens und mit dem unerbittlichen Walten der Götter: Orest ist hin- und hergerissen zwischen dem Befehl Apolls, die Mutter zu erschlagen, und seiner eigenen Furcht vor dem Muttermord und wird als Folge dieses Zwiespalts wahnsinnig. Euripides geht intensiver auf die Charakterisierung ein und steht auf einem weniger allegorischen…
Mist! Das taugt nichts. Versuch ich’s eben später noch mal.
Schweigen in meinem Kopf. Eine hallende, schwarze Leere. Nichts geht heute, überhaupt nichts. Ich glaube, sie ist endgültig dahin. Nicht mal den Krach der Itaker nebenan kann ich empfangen. November ist der grausamste Monat, in dem man mit einem toten Geist dasitzen kann. Ich erlebe ein Eliot-Gedicht. Ich werde zu Worten auf einem Blatt Papier. Soll ich hier hocken und mich selbst bemitleiden? Nein. Nein. Nein! Nein! Ich werde kämpfen. Geistesübungen zur Wiedererlangung meiner Gabe. Auf die Knie, Selig! Den Kopf gesenkt! Konzentrieren! Verwandle dich in eine unendlich feine Gedankennadel, in einen telepathischen Laserstrahl, der sich von diesem Zimmer aus bis in die Nähe des lieblichen Sterns Beteigeuze erstreckt. Hast du’s? Gut. Halt ihn fest, diesen scharfen Strahl aus reinem Geist, der das Universum durchstößt. Halt ihn fest! Nicht mal die Ränder dürfen verschwimmen. Gut. Und nun hinauf. Wir erklimmen die Jakobsleiter. Dies wird ein körperloses Erleben, David. Uup! Up! And away! Steig auf, durch die Decke, durch das Dach, durch die Atmosphäre, durch die Ionosphäre, durch die Stratosphäre, durch die Wasimmersphäre. Hinauf, in die Leere des interstellaren Raums. O Dunkel Dunkel Dunkel. Erkaltet die Sinne, das Tatmotiv verloren. Nein, aufhören! Auf diesem Trip ist nur positives Denken erlaubt. Hinauf! Hinauf! Zu den kleinen, grünen Männchen von Beteigeuze IX. Berühre ihren Geist, Selig. Stell den Kontakt her. Stell… den Kontakt… her.
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