Es stirbt in mir
erhalten… Der Präsident ist tot. Ich war eigentlich nie besonders politisch engagiert, aber dieser Bruch im Commonwealth zerschmetterte mich. Kennedy war der einzige Präsidentschaftskandidat, den ich jemals gewählt und der gewonnen hatte: Die Geschichte meines Lebens, zusammengefaßt in einer blutigen Parabel. Und jetzt sollte es einen Präsidenten Johnson geben. Konnte ich mich daran gewöhnen? Ich klammere mich immer krampfhaft an Stabilitätszonen. Als ich zehn Jahre alt war und Roosevelt starb, Roosevelt, der mein Leben lang Präsident gewesen war, testete ich die fremden Silben der Worte ›Präsident Truman‹ auf der Zunge und lehnte sie unverzüglich ab; ich beschloß, ihn ebenfalls Präsident Roosevelt zu nennen, denn diese Bezeichnung war mir für den Präsidenten geläufig.
An jenem Novembernachmittag empfing ich, als ich zu Fuß nach Hause ging, von allen Seiten Angstemanationen. Alle Menschen waren von Paranoia ergriffen. Mißtrauisch, eine Schulter vorgeschoben, jederzeit zum Zurückzucken bereit, schlichen sie dahin. Durch die geteilten Vorhänge an den Fenstern der hohen Apartmenthäuser weit oben, über den stillen Straßen, spähten bleiche Frauengesichter. Die Autofahrer blickten an Kreuzungen vorsichtig in alle Richtungen, als erwarteten sie Panzer einer SS-Division den Broadway entlangrollen zu sehen. (Zu jenem Zeitpunkt glaubte man noch allgemein, das Attentat sei der erste Schlag eines rechtsgerichteten Putsches.) Niemand hielt sich unnötig im Freien auf; alle hasteten in den Schutz der Häuser. Von nun an konnte alles geschehen. Wolfsrudel konnten aus dem Riverside Drive hervorbrechen. Wahnwitzige Patrioten begannen womöglich ein Pogrom. Von meiner Wohnung aus – Tür verriegelt, Fenster verschlossen – versuchte ich, dich im Computerzentrum zu erreichen, weil ich dachte, du hättest irgendwie vielleicht noch nichts gehört, oder vielleicht wollte ich in diesem traumatischen Augenblick auch nur deine Stimme hören. Die Telefonleitungen waren blockiert. Nach zwanzig Minuten gab ich es auf. Dann wanderte ich ziellos vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und wieder zurück, mein Transistorradio umklammernd, ununterbrochen nach einem Sender suchend, dessen Nachrichtensprecher mir bestätigte, daß er doch noch am Leben war. Auf meinen Wanderungen kam ich schließlich auch in die Küche und fand auf dem Tisch deine Nachricht, daß du mich verlassen hättest, daß du nicht länger mit mir leben könntest. Der Zettel war, wie du notiertest, um 10.30 Uhr geschrieben worden, also vor dem Attentat, in einem anderen Zeitalter. Ich rannte zum Schlafzimmerschrank und sah nun, was mir zuvor nicht aufgefallen war: daß deine Sachen verschwunden waren. Wenn Frauen mich verlassen, Kitty, tun sie es heimlich und unvermutet, ohne vorher etwas zu sagen.
Gegen Abend rief ich bei Nyquist an. Diesmal waren die Leitungen frei. »Ist Kitty da?« fragte ich ihn. »Ja«, antwortete er. »Einen Moment.« Und holte dich. Du erklärtest mir, daß du eine Zeitlang bei ihm wohnen wolltest, bis du wieder zu dir selbst gefunden hättest. Er sei sehr hilfsbereit gewesen. Nein, böse seist du mir nicht, Bitterkeit empfändest du nicht. Es sei nur, daß ich, na ja, so wenig Einfühlungsvermögen hätte, während er… er hätte dieses instinktive, intuitive Verständnis für deine emotionalen Bedürfnisse… er könne nachempfinden, was in dir vorgehe, Kitty, und ich könne das offenbar nicht. Also warst du zu ihm geflüchtet, um bei ihm Trost und Liebe zu suchen. Lebwohl, sagtest du, und Dank für alles, und ich stammelte ebenfalls ein Lebwohl und legte den Hörer auf. In der Nacht schlug das Wetter um, und JFK wurde an einem Wochenende mit dunklem Himmel und eiskaltem Regen zu Grabe getragen. Ich verpaßte alles – den Sarg in der Rotunde, die gefaßte Witwe, die tapferen Kinder, den Mord an Oswald, der Trauerzug, alles, was sofort Geschichte wurde. Samstag und Sonntag schlief ich lange, betrank mich, las sechs Bücher, ohne ein Wort zu begreifen. Am Montag, dem nationalen Trauertag, schrieb ich dir jenen unzusammenhängenden Brief, Kitty, in dem ich dir alles erklärte, dir zu sagen versuchte, was ich mit dir vorhatte und warum, in dem ich mich zu meiner Gabe bekannte und dir die Auswirkungen beschrieb, die sie auf mein Leben hatte, in dem ich dich aber auch über Nyquist aufklärte, dich vor ihm warnte, dir mitteilte, daß er die Gabe ebenfalls besitze, daß er deine Gedanken lesen könne, daß du vor ihm keine
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