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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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in den Höfen und auf der Straße.
    An Neujahr versammelten wir uns um die Gullys und warfen all unsere Sünden hinein. An Jom Kippur kamen wir auf Anweisung der Eltern in einem der Häuser zusammen und aßen drei üppige Mahlzeiten, damit wir, Gott behüte, im kommenden Jahr, das uns zum Segen gereichen möge, nichtmager und krank würden, und wir versprachen einander, diese Sünde geheimzuhalten, aus Angst vor der Strafe Gottes.
    Am Laubhüttenfest brachten wir unseren Feststrauß zu der Laubhütte, die allen Kindern des Viertels gemeinsam gehörte.
    An Purim verkleideten wir Mädchen uns als polnische Krakowiak-Tänzerinnen, die Jungen als Ärzte, und dann veranstalteten wir einen bunten Kostümumzug.
    An Chanukka machten wir jedes Jahr, egal wie das Wetter war, einen Fackelumzug.
    »Dunkelheit, verschwinde, fort mit dir! Wir tragen Fackeln durch die dunkle Nacht«, sangen wir am hellichten Tag in den Straßen, nicht angezündete Fackeln in den Händen. Trotz unseres inständigen Flehens erlaubten uns unsere besorgten Eltern nicht, die Fackeln anzuzünden.
    »Hier spielt man nicht mit Feuer«, entschied Dorka.
    »Wir haben schon genug Feuer und Rauch gesehen«, erklärte Itta den Kindern.
    Wenn es Abend wurde, riefen die Eltern ihre Kinder nach Hause. Wie auf Kommando senkte ein Kind nach dem anderen den Kopf und lief heim.
    »Chajim, nach Hause!« rief Tova.
    »Chemda, Schlafenszeit!« befahl Herr Pschigurski.
    »Zvika, Janale, das Essen wird kalt!« rief Frau Schtigman. Und Sarka rief: »Uri! Ascher! Rivka! Das Essen steht auf dem Tisch!«
    Auch meine Mutter befahl mir, auf der Stelle nach Hause zu kommen, denn im Viertel wurde es schon dunkel.

    Nur Zila unterschied nicht zwischen Dunkelheit und Licht. Jeden Morgen, wenn sie Matti, ihren einzigen Sohn, zur Schule begleitete, hörte ich sie, genau wie nachts, vor sich hinmurmeln: »Dir erlaubt Mama nicht zu sterben.«
    Wenn Matti die Straße überquerte, paßte Zila vom Bürgersteig aus auf ihn auf und schrie: »Vorsicht!« Mal galt ihr Schrei Matti, dann wieder einem Autofahrer.
    »Ausgerechnet ich werde von einem Lastwagen überfahren werden«, zischte Matti in ihre Richtung.
    In den Pausen kam sie mit einem Glas frischgepreßtem Saft ins Klassenzimmer, aber Matti wollte lieber sterben und weigerte sich, die Vitamine zu trinken.
    Und Zila wiederholte immer wieder: »Du wirst nicht sterben, du wirst kein Held sein.«
    Man sagte, sie lasse ihn noch nicht mal unter der Dusche in Ruhe.
    »Das ist das Gas, das ist wieder das Gas!« schrie sie, wenn sie den Dampf vom heißen Wasser sah, lief zu ihm und zerrte Matti aus der Gefahr.
    Jahrelang riefen ihm die Kinder »Matti, der Stinker« nach. Und: »Matti wäscht sich mit Gas!«
    Matti floh nach dem Unterricht zum Gemüseladen seines Vaters.
    Auch dort fand er keine Ruhe. Fast jeden Tag kam Zila in den Laden und flehte ihren Mann an, nichts zu verkaufen. »Diese Schweine«,
     sagte sie und deutete auf die Kunden, »kaufen alles weg, und unser Matti, Boże mój * , muß verhungern.« Und dann stopfte sie den Korb, den sie fest umklammert hielt, bis zum Rand voll mit Obst und Gemüse. Matti wurde rot, und Ruben fuhr fort, die Waren zu wiegen und zu verpacken, als wäre nichts geschehen.
    Wenn Zila mit ihren Sachen aus dem Laden rannte, schaute meine Mutter sie mitleidig an und sagte verzweifelt vor sich hin: »Schmerzen, sie haben keinen Tag und keine Nacht.«
    * Poln.: Mein Gott.

Der dritte Tag
    Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu.
    Um fünf Uhr morgens tauchte Genia auf. Sie trug einen alten, hellblauen Morgenrock, große Lockenwickler schmückten ihren Kopf, und ein dünnes Netz bedeckte ihre schütteren Haare.
    »So ist das bei einer Schiwa«, sagte sie. »Ich habe gewußt, daß du diese Nacht hierbleibst, ich habe gewußt, daß du nicht schlafen wirst.«
    Dann sagte sie noch einmal: »So ist das bei einer Schiwa. Man hat keinen Hunger, man hat keine Tränen, man hat keine Gedanken, man hat einen Stein im Herzen, und aus dem Kopf stürzt ein Wust von Stimmen und Bildern, wie in einem Film, als wäre keiner tot. Und erst viel später, majn kind «, sagte sie in einem mitleiderfüllten Ton, »erst viele Jahre später, fängt man an, sich zu besinnen und vielleicht auch ein wenig zu verstehen, daß die Menschen wirklich tot sind, und für den, der geblieben ist, sind allein die Erinnerungen das wahre Leben.« Und ernst sagte sie: »Ich bin eine Schiwa-Expertin, deshalb habe ich mir Sorgen um dich gemacht und bin

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