Es war einmal eine Familie
schneebedeckten Garten.
Ich stand noch immer wie erstarrt an meinem Fenster.
»Ich sage dir«, hörte ich die entschiedene Stimme meiner Mutter, »Dorka ist verrückt. Was tut sie ihrem Dovele an? Was tut sie der armen Marian an? Sie ist wirklich verrückt.«
Ich war einundzwanzig. Die Sterne und das Licht der Straßenlaterne erhellten die Dunkelheit, ein leichter Sommerwind bewegte die Wipfel der Bäume, es war schon nach Mitternacht.
Zachi, ein junger Mann, den ich an jenem Abend bei einerFreundin getroffen hatte, brachte sein Auto auf der unserem Haus gegenüberliegenden Straßenseite zum Stehen.
Die Scheinwerfer gingen aus, und aus dem Radio drangen die Lieder, die immer in diesen Nachtstunden gespielt wurden.
Zachi und ich blieben im Auto sitzen und stellten uns die üblichen Kennenlernfragen: Wie alt bist du, von wo kommst du, was machst du?
Begeistert entdeckten wir, daß wir viele gemeinsame Bekannte hatten, daß wir gleich alt waren und daß wir beide von einem Universitätsstudium träumten und später in einem Kibbuz leben wollten.
Die Zeit verging, es war schon fast drei Uhr morgens.
Und dann sahen wir im Rückspiegel, wie eine alte, gebeugte Frau in einem verschlissenen Morgenrock mit einem Pinsel in der Hand hinter dem Auto stand und anfing, mit weitausholenden Bewegungen die Karosserie zu bemalen.
»Sind Sie verrückt? Was machen Sie da?« schrie Zachi erschrocken, aber bevor er es schaffte, den Motor zu starten, klopfte die alte Frau ans Fenster.
»Ich bin ihre Mutter«, sagte sie und deutete auf mich, und von ihrem Pinsel tropfte rote Farbe.
»Mama, bist du völlig verrückt geworden?« fragte ich mit brüchiger Stimme.
»Das ist meine Tochter«, sagte sie mit kalter Stimme zu Zachi, »und sie ist eine kurve .« Und dann zischte sie: »Nur Huren sitzen nachts um drei bei fremden Männern im Auto.«
Nach einem wütenden Blick zu mir fügte sie hinzu: »Und über dein Auto, junger Mann, habe ich rote Farbe geschüttet, damit alle wissen, daß es das Auto eines Zuhälters ist.«
Zachi gab Gas.
In jener Nacht lernten wir alle Straßen der Stadt kennen, alle Verkehrsschilder und alle Ampeln, und wir schwiegen.
»Auch meine Mutter kommt aus der Shoah«, stieß Zachi plötzlich hervor, und danach fuhr er schweigend weiter.
Am frühen Morgen, als wir uns voneinander verabschiedeten, gab er mir einen Zettel mit seiner Telefonnummer. »Für den Notfall«, sagte er höflich, seine Stimme zitterte.
Ich ging nach Hause.
Meine Mutter war mit Hausarbeit beschäftigt.
»Guten Morgen«, sagte sie, als wäre nichts geschehen.
Ich packte meine Kleidungsstücke und einige Bücher in eine kleine Tasche, verließ das Haus und das Viertel.
Siebzehn Jahre später war dieser Moment so lebendig in mir, als wäre das alles gerade jetzt erst geschehen.
Ich ging die Treppe hinunter, die Tasche mit meinen Sachen in der Hand, wandte den Kopf zurück und rief: »Hoffentlich stirbst du!«
Das Echo jenes Schreis hallt noch immer in meinen Ohren.
Hallt und gibt keine Ruhe.
Gibt keine Ruhe.
Am Ende des Schabbat kamen Trauergäste, Arbeitskollegen und Kommilitonen, Menschen, die meine Mutter nie kennengelernt hatten. Auch mein Mann kam mit den Kindern.
Sonia und Genia, die beiden neugierigen Alten, folgten ihnen mit raschen Schritten.
»Wir sind Familie«, erklärten sie meinem Mann und den übrigen Anwesenden, ohne daß jemand sie gefragt hatte, dann kauerten sie sich schweigend in eine Zimmerecke und lauschten aufmerksam den Gesprächen der anderen Gäste, die sich über die Arbeit unterhielten, über die Liebe, die Kinder, über Krankheiten oder einfach nur über das Leben.
Plötzlich waren Geigenklänge zu hören.
»Spielt Dorka noch?« fragte ich die beiden Alten, die schweigend dasaßen.
»Ja«, antwortete Sonia. »Dorka spielt schon über ein Jahr mit ihren beiden Söhnen in Gottes Orchester.«
»Und wer wohnt heute dort?« erkundigte ich mich neugierig.
»Eine nette Familie, Neueinwanderer«, antwortete sie. »Sie haben auf dem Stauboden die Geige gefunden, und seither hört ihr kleiner Junge nicht auf zu spielen.«
»Man sagt, er wird ein großer Geiger werden«, erklärte Genia.
Während sie dies sagte, betraten zwei Männer zögernd das Zimmer.
»Wir sind Nachbarn«, sagte der ältere von beiden, der einen alten Anzug und eine Kippa trug.
»Mögen Sie vor weiterem Leid bewahrt bleiben«, sagte der andere mit einem fremden Akzent.
»Sie war eine gute Frau«, sagte der Ältere und
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