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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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waren.«
    »Was hast du gesagt?« fragte ich.
    »Du hast es gehört«, antwortete sie.
    »Was hast du damit gemeint?«
    »Wenn du groß bist, wirst du es verstehen.«
    »Aber ich bin schon groß«, protestierte ich.
    Und sie antwortete: »Erst wenn du viel größer bist, wirst du es verstehen.«

    Früh an diesem Morgen betrat eine elegante Frau die Wohnung. Sie hatte blaue Augen und kurzgeschnittene blonde Haare, und einige wenige Falten beeinträchtigten ihre große Schönheit nicht im geringsten.
    »Es tut mir leid«, sagte Chajale, wie es auch die anderen Trauergäste getan hatten. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, erinnerte das rollende R an ihre Muttersprache.
    Als sie Platz genommen hatte, sagte sie: »Unsere Eltern sind mehrmals ums Leben gekommen. Meine Eltern, weißt du, sind das erste Mal im Krieg ums Leben gekommen, ein zweites Mal, als sie hier einwanderten, ein drittes Mal, als Judale fiel, und ein viertes und letztes Mal, als sie starben.«
    Chajale wollte wissen, was sie hatte, meine Mutter, welche Krankheit, und fragte sehr behutsam, ob sie gelitten habe.
    »Weißt du«, sagte sie, »ich komme nicht oft ins Viertel. Jedesmal, wenn ich herkomme, habe ich das Gefühl, meinen Vater zu hören, der mich anschreit, ich solle früh schlafen gehen, und ich sehe Judale, wie er in seiner Pfadfinderuniform mit der grünen Krawatte durch die Straßen geht und seine Zöglinge mit dem Megaphon zusammenruft.« Sie lächelte. »Schmerzvolle Tage kommen zu mir zurück.«
    Obwohl wir viele Jahre lang in der Schule nebeneinandergesessen hatten, erzählte Chajale mir erst jetzt, wie ihr Bruder darum gekämpft hatte, seine Diasporavergangenheit auszulöschen, wie er sein Taschengeld gespart hatte, um sich Khakikleidung und Riemensandalen zu kaufen, weil er wie ein Kibbuznik aussehen wollte. Und wie er nachts im Bettgesessen und vergeblich versucht hatte, sein rollendes polnisches R loszuwerden.
    »Judale hat davon geträumt, ein Sabre zu sein«, sagte sie voller Schmerz. »Die Seife aus Polen hat alle Kraft und Zeit den Pfadfindern gewidmet, er wurde Spezialist für Zeltlager und nächtliche Orientierungsmärsche, er wollte in einem Kibbuz leben und die Araber im Krieg besiegen. Und meine armen Eltern, für die er sich so geschämt hat, haben sich innerlich aufgefressen und kein Wort gesagt.«
    Als sie ihre Eltern erwähnte, steckte sie sich eine Zigarette an, dann rekonstruierte sie mir mit lauter Stimme den schweren Weg, den sie von Polen ins Viertel hatten zurücklegen müssen.
    »Sie kamen als ältere Leute von dort, mit nichts, und waren hier von der Mildtätigkeit anderer abhängig. Meine Eltern, die aus angesehenen Familien stammten, haben hier mit Fleisch gehandelt, und auch das nur dank Onkel Ruben, der ihnen geholfen hat, eine Metzgerei zu eröffnen. Eine Metzgerei – verstehst du?«
    Sie seufzte, bevor sie weitersprach: »Meine Eltern haben ihr Leben hier mit Schlafen und Schweigen verbracht. Und schweigend ließen sie auch unseren Helden gehen. Sie sagten kein Wort zu Judale, als er sich freiwillig zu einer Elitekampfeinheit meldete.«
    Chajales Hand, in der sie die Zigarette hielt, fing an zu zittern.
    »Erst als Judale gefallen war, brach es plötzlich aus meiner Mutter heraus: Ich bin schuld, ich verstehe es nicht, auf meine Kinder aufzupassen, Chanale und Mottele sind mir dort genommen worden, Judale hier. So erfuhr ich, daß ich noch weitere Geschwister gehabt hatte.« Chajales Stimme klang bitter. »Mein Vater versuchte, sie zu beruhigen. Das ist Schicksal, sagte er und nahm noch eine Beruhigungspille.«
    Chajale sprach jetzt viel und schnell. Das stille Mädchen, das jahrelang in der Schule neben mir gesessen hatte, deren Eltern unsere Lehrerin Pola zu sich gerufen und gefragt hatte: Warum spricht Ihre Tochter nicht?, sprach jetzt ohne Unterlaß.
    Chajale schien meine Gedanken zu erraten. »Es scheint, daß ich Tante Zila ähnlich geworden bin«, sagte sie. »Von ihr habe ich gelernt, daß man alles aussprechen muß.« Und dann sagte sie: »Meine Tante war eine über alle Maßen großartige Frau.«
    Sie nahm einen Schluck Kaffee, den ich ihr vor einer ganzen Weile eingegossen hatte.
    »Weißt du«, sagte sie, »der Kommandeur meines Bruders sagte damals bei der Schiwa, Gott habe Judale eine große Gnade erwiesen. Ihr Jehuda, sagte er, hat Glück gehabt. Er ist im Kampf gefallen, wie er es sich erträumt hat.« Sie schaute mich an. »Kannst du dir das vorstellen?« fragte sie und wartete die

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