Es war einmal eine Familie
sorgte, verdonnerte mich dazu, ihr bei den Hausaufgaben in Hebräisch zu helfen.
So kam es, daß ich an einem Freitagabend widerwillig bei einem Schabbatessen der Familie Poliwoda dabei war.
Um einen kleinen Tisch in der Küche saßen an jenem Abend vier schöne blonde und blauäugige Menschen – und schwiegen.
Auf dem Tisch standen Frikadellen für die Kinder und Beruhigungspillen für die Eltern. Chajales Mutter betrachtete die Töpfe und den Fußboden, der Vater blickte zur Decke, und Judale, ihr großer Bruder, schaute dauernd auf die Uhr, um zu wissen, wann er endlich weggehen könnte.
Als er die Wohnung türenknallend verließ, fragte ihn niemand: »Wohin gehst du?« oder: »Wann kommst du zurück?«
Nach dem Essen, als wir eigentlich spielen wollten, sagte Chajales Vater zu mir, es sei nun Zeit zu gehen. Er versuchte einen Scherz. »Kinder müssen früh schlafen, um zu wachsen, und Eltern müssen früh schlafen, um zu vergessen.«
Chajale brachte mich noch nach Hause. Unterwegs sagte sie verschämt, ihre Eltern würden immer früh schlafen gehen, sogar wenn wichtige Gäste kämen.
Vielleicht um mich für diesen wenig gelungenen Besuch zu entschädigen, beharrte Chajale darauf, daß ich, wenigstens einmal, mit ihr ihre Tante Zila besuchen solle, die sie besonders liebte.
Aus irgendeinem Grund gab ich einmal ihrem Drängen nach und ging nach der Schule mit.
Tante Zila empfing uns sehr freundlich. Obwohl es erst Mittag war und sie mit Hausarbeit beschäftigt war, trug Zila ein festliches Kostüm, ihre blonden Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt, über ihren blauen Augen war blauer Lidschatten aufgetragen, ihre Lippen waren rot geschminkt.
Zila deckte den Tisch mit einer weißen Decke und silbernem Besteck und servierte uns auf Porzellantellern ein saftiges Schnitzel auf einem Hügel aus Püree, verziert mit gebratenen Zwiebeln.
»Guten Appetit, eßt, eßt«, sagte sie. Dann brachte sie frischgepreßten Karottensaft und setzte sich zu uns an den Tisch. Davor sagte sie noch, sie sei jemand ganz Besonderes, denn nur sie und noch ein paar Auserwählte im Viertel hätten sowohl einen Namen als auch eine Nummer. Sie schob mit einer geübten Bewegung ihren Blusenärmel hoch, entblößte ihren Arm und beschrieb, wie man ihr im Lager die Nummer auf den Arm tätowiert hatte.
Sofort danach erzählte sie, daß damals, dort, eine große Läusefamilie auf ihrem Kopf gewohnt hatte. Diesen Läusen hatte sie die Namen von Gojim gegeben, denn sowohl die Läuse als auch die Gojim hätten es auf die Köpfe der Juden abgesehen. Als sie sie sich an die Laus Tadeusz Slobodowski und seine Frau, die Läusin Maria Slobodowska, erinnerte, die auf ihrem Kopf gewohnt hatten, brach Zila in Gelächter aus undmachte mir und Chajale vor, wie sich wegen der Läuse alle Frauen im Lager mit schmutzigen Fingernägeln den Kopf gekratzt hatten. Mit verstrubbelten Haaren erzählte sie aufgeregt, daß die Kopfhaut ihrer Lagerfreundinnen ganz zerkratzt war und die Wunden eiterten, davon bekamen die Frauen hohes Fieber und schreckliche Krankheiten und starben an der Infektion. »Aber ich«, sagte sie mit glänzenden Augen, »ich hatte großes Glück. Nachdem ich Kartoffelschalen aus dem Abfall gestohlen hatte, hat man mir alle Fingernägel rausgerissen.«
Chajale schaute auf ihren Teller, und ich saß erstarrt da.
»Eßt, eßt«, drängte Zila und überschüttete uns mit einem weiteren Schwall von Geschichten.
»Eines Tages hat Etel, meine Pritschennachbarin, ein Kind geboren«, erzählte sie fröhlich, »und sie hatte, nebbich, keine Kraft, um bei den Wehen zu pressen. Deshalb haben ihr ein paar Frauen aus unserer Baracke unter den Augen der Deutschen einen Kaiserschnitt gemacht, und wenn Etel unter die Dusche geht, wird sie durch die Narbe bis heute an das Kind erinnert, das im Krieg gestorben ist.« Das Messer fiel mir aus der Hand und knallte mit einem häßlichen metallischen Geräusch auf den Boden. Zila schaute erst das Messer an, dann mich und sagte: »Mit einem Messer wie diesem haben wir der armen Etel den Kaiserschnitt gemacht.«
Mir stockte das Blut. Ich ließ das Messer unter dem Tisch liegen, und als Zila zum Kühlschrank ging, um uns einen Nachtisch zu bringen, nutzte ich die Gelegenheit und floh.
Erschrocken kam ich zu Hause an, aber ich erzählte nichts. Meine Mutter verlangte keine Erklärungen.
»So ist es«, sagte sie, »es gibt auf der Welt gute Menschen, böse Menschen und Menschen, die in Auschwitz
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