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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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fügte hinzu: »Ich habe sie gut gekannt, ich war mein Leben lang Angestellter bei der Krankenkasse.« Dann seufzte er. »Heute bin ich Rentner, und jeden Morgen gehe ich zur alten Synagoge. Außer mir gibt es dort keine Betenden mehr. Ganz allein wische ich Staub, ordne die Bücher und bete, und abends gehe ich von einer Schiwa zur nächsten.«
    »Von einer Schiwa zur nächsten«, murmelte Sonia. »So sammelt er gute Taten.«
    Er ignorierte ihren Einwurf, deutete auf seinen Freund und sagte: »Wir sind gekommen, um zu fragen, ob man noch Männer für einen Minjan braucht.«
    »Die Verstorbene mochte keine Gebete«, protestierte Sonia. »Ich bin der neue Nachbar, ich habe sie nicht wirklich gekannt«, sagte der zweite Mann, um seinen Freund vor Sonias Zorn zu retten. »Aber man hat mir gesagt, die Familie der Frau sei klein, deshalb wollte ich fragen, ob man mich braucht, um für ihr Seelenheil zu beten.«
    »Er ist der Vater des Geigers«, sagte Sonia laut.
    Der Mann wurde rot. »Ich bitte um Verzeihung, wenn das Geigenspiel bei der Schiwa gestört hat.«
    »Sein Sohn wird ein berühmter Geiger«, mischte sich der ältere Mann ins Gespräch.
    Genia, die in der Zimmerecke saß, seufzte und sagte: »Wie Dorka es gewollt hat.«
    »Tfu!« Sonia spritzte Spucke um sich. »Das hätte uns gerade gefehlt. Noch ein Geiger im Viertel.«

    So endete der zweite Tag der Schiwa,
    und die Nacht begann.
    * Jidd.: Hure.
Nacht ohne Ruhe
    Kurz nach Mitternacht
    Die Trauergäste verließen die Wohnung. Nur Sonia und Genia fiel es schwer, sich zu trennen.
    »Du gehst nicht nach Hause«, verkündete mir Sonia, schüttelte den Kopf und deutete befehlend mit dem rechten Zeigefinger auf mich.
    Ich wurde zornig. Niemand hat mir zu sagen, was ich tun soll, wollte ich antworten, wie ein kleines Mädchen, das um ein Stückchen Freiheit kämpft, aber die Müdigkeit überwältigte mich, ich sagte nichts.
    »Dein Mann und die Kinder sind schon längst zum Schlafen nach Hause gefahren, und hier brennt ihr Seelenlicht noch«, versuchte Genia auf ihre Weise, mich zum Bleiben zu überreden.
    Sie standen dicht nebeneinander und betrachteten das gelbe Flämmchen des Seelenlichts.
    »So hat Helena es geliebt«, sagte Genia seufzend, dann bat sie: »Mach ihr Licht nicht aus.«
    »In dieser Nacht bleibst du hier«, verkündete Sonia zum zweiten Mal, und bevor sie die Wohnung verließ, wünschte sie mir eine gute Nacht.
    Nachdem die beiden Alten gegangen waren, wollte ich die Wohnung abschließen und gehen. Stille erfüllte die Räume, und das Licht des Kerzchens tanzte über die Wände wie früher.
    Obwohl ich vorgehabt hatte, nach Hause zu fahren, ertappte ich mich dabei, wie ich eine Weile die Flamme anstarrte, die Flamme und die Dunkelheit draußen.
    Diese Nacht würde ich keinen Schlaf finden.
    Es war eine fremde Stille, die Menschen schliefen, nur ein leichter Wind war zu hören und das Rascheln von Blättern. Einmal, vor vielen Jahren, war diese Straße nachts voller Leben gewesen.
    Am Ende des Tages riefen die Eltern ihre Kinder nach Hause. »Dovele, komm heim!« schrie Dorka.
    »Racheli, Schlafenszeit!« rief Frau Tuchmayer.
    »Roni, Papa ist schon zu Hause!« verkündete Mina.
    Und Mirjam rief: »Kinder, das Essen steht auf dem Tisch!«
    Nach und nach ließen die Kinder des Viertels ihre Spiele im Stich, sammelten die Murmeln ein, die Aprikosenkerne, die Kreisel, und liefen nach Hause.
    Dunkelheit senkte sich über das Viertel.
    Wenn es Nacht wurde, zündete meine Mutter immer Seelenlichter für ihre Toten an. Ihr spärliches Licht tanzte und schwebte durch die Wohnung. Viele Nächte verbrachte ich wach in meinem Zimmer und spähte durch die Ritzen des Fensterladens heimlich nach draußen.

    Bei Anbruch der Nacht eröffnete Frau Ida Zitrin, die Kosmetikerin, den Reigen. Kaum wurde es dunkel, schrie sie aus ihrem Fenster: »Hilfe! Hilfe! Gott soll mich schon zu sich holen!«
    »Still, Cinderella, niemand wird kommen und dich holen«, rief ein nervöser Nachbar vom anderen Ende der kleinen Straße. Aber mit der Ruhe war es vorbei. Im Gefolge von Frau Zitrins Geschrei erschien Esterke Pschigurski, die Mondsüchtige, auf der Straße. Esterke war eine knochige Frau, herausgeputzt und viel zu stark geschminkt. Sie erschien in einem seidenen Nachthemd, trug Schuhe mit hohen Absätzen und eine goldfarbene Handtasche und fragte in die Dunkelheit: »Was ist das hier?«
    Da keine Antwort kam, erschrak sie: »Mamele, wo bin ich?« Und dann antwortete sie sich

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