Es war einmal eine Familie
selbst: »Hier ist Bergen-Belsen, ich weiß, hier ist Bergen-Belsen!« So schrie sie in ihren weißen Nächten, bis sie vierzig Schlaftabletten nahm und für immer einschlief.
Aus einem Haus am Rand des Viertels drangen laute Schreie, mit einer tiefen Stimme: »Halt! Heraus! Halt! Heraus!«
Wenn sie diese Schreie hörte, lief Sarka aus ihrem Haus auf die Straße. »Das ist der Kapo, das ist wieder der Kapo!« rief sie aufgeregt, und obwohl der Mann nun schwieg, rannte Sarka zwischen den Häusern herum, bis sie die Hoffnung, ihn zu erwischen, aufgab. Erst dann kehrte sie erschöpft nach Hause zurück.
»Ich werde ihn schon noch erwischen«, tröstete sie sich. »Ich will, daß er mir in die Augen schaut, daß er mich um Verzeihung bittet!« Und dann fügte sie entschlossen hinzu: »Ich werde ihm nie im Leben verzeihen.«
Um Mitternacht waren alle still geworden.
Aus der Dunkelheit trat Zila, die Frau des Gemüsemanns.
»Ich bin Zila, die Tochter von Luba und Jankel Nowitsch, Schwester von Mosche Nowitsch«, rief sie.
Barfuß stand sie in der Tür ihres Hauses, nur in einem dünnen Nachthemd, und erzählte von Mojschele, ihrem heldenhaften Bruder, dem Anführer der Untergrundbewegung im Ghetto, und der, nebbich, der erste war, der beim Aufstand umkam. »Aber mein Matti wird nicht sterben«, schrie sie in die Nacht. »Hörst du, mein Junge, dir erlaubt Mama nicht, ein Held zu sein.«
»Wenn Mojschele kein Held gewesen wäre«, verkündete sie, »dann würde er heute noch leben, leben, leben …«
Nachdem sie die Erinnerung an ihren Bruder wieder wachgerufen hatte, lief sie wie eine Schlafwandlerin durch das Viertel und suchte ihn. »Mojschele, wo bist du? Wo bist du?«rief sie und flehte: »Mojschele, du darfst nicht noch mal sterben!«
Soscha, die die Geduld verlor, öffnete das Fenster ihres Schlafzimmers. »Ruhe!« schrie sie. »Wann ist hier endlich Ruhe!«
»Ruhe gibt es nur im Paradies und in der Hölle«, antwortete Zila dann.
»Die Hölle ist hier«, sagte Soscha. »Es soll endlich Ruhe sein.«
»Geh zu deinen Toten, dort hast du Ruhe«, schimpfte Zila und fuhr fort, laut nach ihrem Mojschele zu rufen.
»Pest und Cholera«, brüllte Soscha und schloß mit einem lauten Knall ihren Fensterladen.
In jenen Nächten hörte ich, wie man nach Tula rief, nach Lea-Rivka, nach Salman, nach Naftali, nach Blume und nach anderen Menschen, die ich nicht kannte. Denn obwohl ihre Namen jede Nacht gerufen wurden, kam keiner von ihnen je zu uns ins Viertel.
Gegen Ende meiner Nachtwache sah ich durch die Ritzen des Fensterladens meine Mutter durch die kleine Straße gehen, in der wir wohnten, und die Deckel von den großen Mülltonnen hochheben.
»Miez-miau, kommt! Miez-miau, kommt!« rief sie, und die Straßenkatzen versammelten sich mit fröhlichem Miauen um sie.
»Gleich bekommt ihr was zu essen, Katzen«, versprach sie ihnen und verstreute den Inhalt der Mülltonnen auf dem Bürgersteig.
Der Aufseher von der Stadtverwaltung, der ihr wegen des Verstreuens von Müll wieder und wieder einen Bußgeldbescheid verpaßte, fragte sie verlegen: »Frau Helena, wann hören Sie endlich damit auf?«
Und sie antwortete stolz und stur: »Nie!«
Sie bezahlte die Strafe und verkündete: »Bei mir werden selbst die Katzen nie hungern müssen.«
Wenn der Morgen die Nacht besiegte und das Seelenlicht in unserer Wohnung sich mit dem Tageslicht vermischte, erwachte auch ich zu einem neuen Tag. Die Männer der Nachbarschaft gingen zur Arbeit, Hausfrauen eilten mit Plastikkörben zum Lebensmittelladen, zum Gemüsemann oder zur Krankenkassenambulanz, und ich lief, mit allen anderen Kindern des Viertels, zur Schule.
Es war, als hätte es die Nacht nie gegeben.
Tagsüber waren die Straßen vom Rufen der Kinder erfüllt.
Grüppchenweise verteilten wir uns auf den Straßen und spielten Himmel und Hölle, Fünf-Steine, Fangen, Murmeln und Verstecken.
Als wir etwas älter waren, klauten wir Mispeln von den Bäumen, bei Ruben, dem Gemüsemann, stibitzten wir Aprikosen wegen der Kerne, mit denen wir Murmeln spielten, und von Efraim, dem Lebensmittelhändler, besorgten wir Tütchen mit Trinkschokolade. An Regentagen, wenn die Erde naß war, machten wir das Taschenmesser-Werfen-Spiel und sprangen mit den Kröten in den Pfützen um die Wette, und an heißen Sommertagen spritzten wir aus unseren Verstecken Wasser auf die Passanten und schrien begeistert: »Es regnet, es regnet!«
Auch am Schabbat und an den Feiertagen trafen wir uns
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