Es war einmal eine Familie
gekommen, um zu sehen, wie es dir geht.«
Noch bevor sie sich setzte, bat sie mich um einen großen Gefallen: »Sag Sonia nicht, daß ich allein hergekommen bin, das macht sie nervös. So ist das bei uns, seit Doktor Wollmann von uns gegangen ist, nehme ich keine Schlafmittel mehr, und sie nimmt keine Medizin mehr für ihre Nerven, die sie jeden Tag plagen.«
»Gibt es im ganzen Land keinen anderen Arzt?« fragte ich mit einem Lächeln.
»Doch«, antwortete sie, »natürlich gibt es welche, da ist zum Beispiel unser Doktor Matti, der Sohn von Zila. Er ist eingroßartiger Arzt, ich vertraue ihm, wie ich Doktor Wollmann vertraut habe.«
»Und warum gehen Sie dann nicht zu ihm?«
»Ich werde zu ihm gehen«, antwortete sie und lächelte verschmitzt. »Aber jetzt noch nicht«, sagte sie. Ein dumpfer Verdacht stieg in mir auf.
»Worauf ist er spezialisiert?« fragte ich.
»Nun, wie nennt man das«, sagte Genia, »er ist ein großartiger Doktor für Tote.« Plötzlich fiel ihr das widerspenstige Wort ein: »Pathologe.« Und zufrieden fügte sie hinzu: »Auch wenn ich schon halb tot bin, glaube ich doch nicht, daß ich jetzt schon zu ihm gehen sollte.«
Dann machte sie es sich in dem alten, verstaubten Sessel bequem und erkundigte sich, wer schon zur Schiwa gekommen sei.
Während ich die Namen der Trauergäste aufzählte, hörte Genia ungeduldig zu, und noch bevor ich fertig war, unterbrach sie mich und fragte: »Und wen hast du zur Schiwa eingeladen?«
»Wer kommt, kommt«, antwortete ich gleichgültig.
»Was soll das heißen, wer kommt, kommt?« schimpfte sie und fuhr mit entschiedener Stimme fort: »Du mußt überlegen, wen du vielleicht vergessen hast, jemand, von dem du willst, daß er kommt, und dann wird derjenige heute noch kommen.« Sie legte eine zittrige Hand auf meinen Kopf und schaute sich um, ob auch niemand zuhörte. Obwohl kein anderer da war, senkte sie die Stimme. »Und wenn nicht heute, dann vielleicht morgen. Bei einer Schiwa passieren spirituelle Dinge. Vergiß nicht, was Genia dir gesagt hat. Ich bin eine Schiwa-Expertin.«
Nachdem Genia wieder gegangen war, wußte ich, daß Chajale Poliwoda zur Schiwa kommen würde.
»Heute kommt eine Neueinwanderin zu uns«, verkündete Pola, die Lehrerin, als wir in der dritten Klasse waren, mitten im Schuljahr. Und zu mir sagte sie: »Ich möchte, daß die neue Schülerin neben dir sitzt.«
Ich verzog das Gesicht.
Pola wies mich zurecht. »Man muß Neueinwanderer freundlich empfangen.«
An jenem Tag, nach dem Klingeln, betrat ein kleines, dünnes Mädchen die Klasse, ein Mädchen mit riesigen blauen Augen und zwei langen blonden Zöpfen, in einer weißen Bluse und einem karierten Rock, der ihre Knie verdeckte, und mit roten orthopädischen Schuhen mit schwarzen Schnürsenkeln.
Sie machte ein verlegenes Gesicht, als Pola sie uns vorstellte und zu ihr sagte: »Setz dich dorthin, neben dieses nette Mädchen.« Sie deutete auf mich.
»Ich heiße Chajale«, sagte die Neueinwanderin mit polnischem Akzent, bevor sie sich hinsetzte.
Von jenem Tag an, mitten in der dritten Klasse, saß Chajale Poliwoda neben mir, bis zum Ende der Grundschule. Und die meiste Zeit schwieg sie.
Schon am Tag ihrer Ankunft erfuhren wir alle, daß sie einen Bruder hatte, Judale, der zwei Jahre älter war als sie, und daß sie nicht nur Seife aus Polen waren, sondern auch Verwandte von Matti, dem Stinker.
In der Pause machte das Gerücht die Runde, Chajale und ihre Familie hätten Polen wegen Gomułka verlassen.
Roni Postawski erklärte allen, Gomułka sei eine unheilbare Krankheit. »Aber nicht ansteckend«, beruhigte er uns.
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung!« rügte ihn Pola und setzte zu einem Vortrag an: »Władysław Gomułka, Kinder, wird in der Geschichte unseres Volkes für immer als Erster Sekretär der Polnischen Arbeiterpartei Eingang finden, der esden Überlebenden in Polen ermöglichte, in ihre Heimat zurückzukehren, in das Land Israel.«
Trotz der Ermahnungen unserer Lehrerin rannte auch ich in der Pause mit den Kindern des Viertels hinter Chajale und Judale her:
»Gomułka! Dobrze! * Proszę pani! ** « verspotteten wir die Neueinwanderer mit großem Vergnügen.
Wie alle anderen Kinder ließ auch ich Chajale und Judale nicht mitspielen und lud sie nicht zu unserem Klassenabend bei mir zu Hause ein.
Seit Chajale und Judale ins Viertel gekommen waren, fühlte ich mich endlich als echte Sabre.
Pola, die Lehrerin, die sich um die vereinsamte Chajale
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