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Es war einmal eine Familie

Es war einmal eine Familie

Titel: Es war einmal eine Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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und das habe ich gedacht, als ich hörte, daß unsere Helena aufgehört hatte zu leiden.«
    Genia beruhigte sich nicht.
    »Genug Tränen«, schimpfte Sonia, dann fragte sie: »Sag mir die Wahrheit, wärst du bereit, so zu leben wie Esterke? Wärst du bereit, so zu leben wie Helena, ohne Bewußtsein? Oder vielleicht wie Sarka Donner?«
    »Wie Sarka, da ist es besser zu sterben, wirklich, da ist es schon besser zu sterben«, schluchzte Genia. »Die Ärmste, für sie war es wirklich besser zu sterben«, sagte sie und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab.
    »Jetzt«, sagte Sonia in entschiedenem Ton, »hast du einen guten Grund zu weinen.«
    Sie wandte sich zu mir. »Bei Sarka hörte alles nach dem Krieg auf.«
    Sarka aus der Tschechoslowakei und Mirjam aus Polen, zwei junge Frauen, die dort ihre ganze Welt verloren hatten, trafen sich hier, im Innenministerium, in der Schlange von Leuten, die auf einen Personalausweis warteten.
    So hatte es mir Tante Itta von Theresienstadt erzählt, die beste Freundin meiner Mutter, die immer alles über alle anderen wußte.
    »Bei mir hat alles nach dem Krieg aufgehört«, sagte Sarka traurig, zu niemand Bestimmtem.
    »Es wird alles gut, du wirst schon sehen, es wird alles gut«, versprach Mirjam, eine fremde Frau, die hinter ihr in der Warteschlange stand.
    Noch am selben Tag, mit ihren neuen Personalausweisen und mit dem Versprechen, immer zusammenzubleiben, fingen die beiden an, in einem Sprachkurs Hebräisch zu lernen.
    Dort lernte Mirjam Mietek Lewinger kennen, und Sarka traf Josef Donner. Nach ihrer Heirat wollten sie nebeneinander wohnen. Sarka brachte Uri und Rivka auf die Welt, und Mirjam ihren Ascher.
    An dieser Stelle nahm Itta immer einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr, das glückliche Ende der Geschichte zu erzählen.
    Und seitdem, am Rand des Viertels, in einem dreistöckigen Haus, im ersten Stock, Tür an Tür, lebten die Lewingers und die Donners wie eine einzige große Familie.
    »In unserer Familie«, sagten beide immer glücklich und stolz, »gibt es zwei Väter, zwei Mütter und drei Kinder.«
    Viele Male war ich in dem Haus gewesen, in dem sie wohnten, neugierig darauf, wie eine große Familie lebte. Dort, im ersten Stock, saß ich im Treppenhaus und beobachtete, wie Frau Lewinger in einem rosafarbenen Morgenrock und in türkisfarbenen Hausschuhen aus der Wohnung der Familie Donner kam, mit einem halben Glas Zucker in der Hand, ich hörtesie rufen: Oj wej, Sarka, mir ist der kigl angebrannt! Ich sah, wie Ascher in die Küche der Familie Donner lief und aus dem Kühlschrank das Hühnerbein nahm, das Sarka gebraten hatte, und wie Josef Donner zur Dusche der Familie Lewinger lief, weil es dort noch ein bißchen heißes Wasser gab.
    So lebt eine große Familie, dachte ich neidisch, als ich ein Kind war.
    Oft saß ich dort auf der Treppe. Ich lauschte den Gesprächen, dem Geschrei und den Segenssprüchen. So hörte ich auch, wie hingerissen Sarka war, wenn Ascher sang. »Unser Ascher wird ein Sänger«, sagte sie ganz begeistert zu Mirjam.
    Mirjam Lewinger, Aschers Mutter, wies diese Vorstellung angewidert zurück.
    »Sänger, das ist weder Ehre noch ein Beruf«, murrte sie und flehte Sarka an, ihren Ascher ja nicht zum Singen zu ermutigen.
    Sarka machte heimlich mit Ascher aus, daß er nur bei ihr in der Küche singen solle, damit Mirjam sich keine Sorgen zu machen brauche.
    Sarka kochte, buk, weinte und bügelte, und Ascher saß neben ihr in der Küche und sang.
    Und jeden Abend, vor dem Schlafengehen, sang er ihr das Lied, das sie am meisten liebte: »Es brent, brider, es brent .« Uri war es, der allen Kindern in der Klasse erzählte, daß unser Ascher Sänger werden würde, und er, Uri, würde sein Manager. Bei dieser Gelegenheit lud er uns alle zum ersten Konzert ein.
    Kurz darauf versammelten wir uns an einem Winterabend in ihrem Hof, zitternd vor Kälte und naß vom Regen, standen wir unter dem Fenster und lauschten, wie Ascher sang: »Es brent, brider, es brent, oj, undser orem schtetl brent .« Ascher sang für Sarka, und wir ermutigten ihn mit lautem Händeklatschen und Zurufen. Ascher tauchte überrascht am Fensterauf, und als er die ganze Klasse da stehen sah, wurde er ganz starr vor Aufregung.
    Uri trat hinter ihn und verkündete: »Das war der erste Auftritt des berühmten Sängers Ascher!« Er schob Ascher in die Mitte des Fensters und drängte ihn, weiterzusingen, so lange, bis aus den umliegenden Häusern gereizte Rufe zu hören

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