Es war einmal eine Familie
Angriffen ihrer Luftwaffe sowie mit Panzer- und Artillerieeinheiten. Unsere Armee erwiderte das Feuer und drängte die Angreifer zurück. Der Feind hat bereits schwere Verluste erlitten. Unsere Truppen sind gegen die Gefahr angemessen gerüstet, wir haben keinen Zweifel an unserem Sieg.«
Die Stimmung im Raum wurde immer bedrückender.
Aus dem Heimatkundeheft der sechsten Klasse, das ich in der Tischschublade verwahrt hatte, zog ich einen alten Brief und reichte ihn Chajale.
»Das ist ein Brief von deiner Mutter«, sagte Chajale aufgeregt. »Ich erinnere mich an ihre Handschrift.« Sie lächelte. Dann las sie laut vor:
März 1964
Sehr geehrter Herr Schatz,
am 11. Adar wird meine Tochter nicht in die Schule kommen und nicht mit der Klasse zum Grab von Trumpeldor fahren. P. S. Sehr geehrter Herr Direktor, ich habe Ihren Helden Josef Trumpeldor nicht persönlich gekannt, aber ich weiß aus Erfahrung, daß Menschen, die denken, es sei gut zu sterben, im allgemeinen krank sind.
Ich habe in der Enzyklopädie gelesen, daß Trumpeldor in Rußland im Krieg verwundet wurde und man ihm einen Arm amputiert hat. Vielleicht litt er deswegen an Depressionen.
Zu meinem Bedauern habe ich Tausende von Menschen gesehen, die ihre Ehre verloren, ihre Familie, ihr Geld und ihren Besitz, sie hatten keine Kleider und nichts zu essen, sie froren, es ging ihnen schlecht, und sie hatten Schmerzen, aber keinervon ihnen dachte, es sei gut zu sterben. Alle hofften, am Leben zu bleiben.
Ich muß meine Tochter, die nach dem schrecklichen Krieg auf die Welt kam, lehren, das Leben zu lieben. Sie muß wissen, daß, wenn sie, was Gott verhüten möge, einmal kämpfen muß, sie dann kämpfen wird, um zu leben, und nicht, weil es gut ist, zu sterben, wie Sie und Trumpeldor glauben.
Hochachtungsvoll, Helena
»Das hat deine Mutter geschrieben?« fragte Chajale erstaunt. »Ach, hätte es doch noch mehr Menschen gegeben wie sie und Zila.« Sie steckte sich eine weitere Zigarette an.
»Diesen Brief«, sagte ich, »hat Herr Schatz nie gelesen. Aus lauter Scham habe ich ihn in meinem Heft versteckt.« Chajale unterbrach mich. »Das ist kein Brief«, rief sie, »das ist ihr Testament!«
* Poln.: In Ordnung, gut.
** Poln.: Werte Dame.
Sonnenuntergang
Vor Sonnenuntergang
Sonia und Genia erschienen mit einem riesigen Topf.
»Ich habe Suppe für dich gekocht«, sagte Sonia, noch bevor sie mich begrüßte, und befahl ihrer Freundin, den Topf auf den Herd zu stellen.
Obwohl ich nicht hungrig war, brachte mir Sonia dampfende Hühnersuppe.
»Iß, du hast schwere Stunden vor dir«, befahl Genia.
Die beiden setzten sich zu mir, betrachteten abwechselnd die Suppenschüssel, den Löffel und meinen Mund.
Der wunderbare Geschmack der Suppe besänftigte mich.
»Nebbich, jetzt ist sie wirklich eine Waise«, sagte Genia und seufzte. »Ihr Vater ist gegangen, als sie fünf war, und jetzt ist auch ihre Mutter gegangen.« Sie sprach zu Sonia, als wäre ich überhaupt nicht da und als wüßte Sonia das alles nicht schon längst. Wieder stieß sie einen Seufzer aus.
»Eine Waise mit Mann und Kindern, das ist nicht so schlimm«, entschied Sonia und fügte hinzu: »Helena war stark, trotz allem, sie ist erst gestorben, als sie Enkel gesehen hatte – nicht nur einen Enkel, sondern zwei!«
»Dabei ist sie so jung gegangen«, jammerte Genia. »Sie war erst siebzig.«
»Helena wußte, wann es für sie Zeit ist, zu sterben«, beruhigte Sonia sie. »Sie war siebzig, sah aus wie achtzig und hatte für hundertzwanzig gelitten. Warum sollte sie weiterleben?«
In ihrem letzten Jahr hatte Helena im Krankenhaus gelegen, bleich und ausdruckslos, nur noch Haut und Knochen. Ihre stille Welt war erfüllt vom scharfen Geruch von Medikamenten und Urin. Das Geräusch des Beatmungsgeräts hatte sie mit unserer Welt verbunden, und nur das Röcheln, das sie von Zeit zu Zeit ausstieß, war in jenen Tagen für sie und für mich das Zeichen, daß sie noch lebte.
Genia schaffte es nicht, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Hör schon auf zu weinen«, schimpfte Sonia. »Manchmal ist es besser zu sterben. Das habe ich gedacht, als unsere Fela ins Gas ging, und das habe ich gedacht, als mein Awremele bei einer Aktion ging.« Sie schaute mich an und erklärte: »So haben beide nicht mit ansehen müssen, wie die Deutschen ihre Kinder vergast haben.«
Genia schluchzte.
»Das habe ich auch gedacht«, sagte Sonia zu ihr, »als unsere Esterke Schlaftabletten nahm und, Gott sei Dank, starb,
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