Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
immer in deiner Schuld stehen. Es gibt keinen Grund für eine Rehabilitierung.“
Beunruhigend, wie stark sein Herz schlug, fast schon schmerzhaft, vor einer tiefen Sehnsucht. „Willst du mir sagen, was nicht in Ordnung ist, Sarah? Ich möchte es gern wissen. Und wenn ich kann, möchte ich dir helfen.“
Sie blickte ihn an, in ihren Augen lag Besorgnis. „Hat es dir noch niemand gesagt?“
„Was hat mir niemand gesagt?“
Nervös befeuchtete sie ihre Lippen. „Du erinnerst dich doch, dass Hart ein Bild von Francesca bei mir in Auftrag gegeben hat?“
Worauf sie hinauswollte, konnte er sich nicht vorstellen. „Natürlich. Du warst so aufgeregt deswegen und freutest dich darauf.“
„Ich habe das Gemälde im April vollendet. Hart war sehr angetan.“
Wenn Hart, ein weltbekannter Kunstsammler, zufrieden mit ihrem Bild war, warum war sie dann so beunruhigt? „Das freut mich. Darf ich auch einen Blick auf das Kunstwerk werfen?“
Verzweifelt rang Sarah die Hände. „Es ist fort.“
„Es ist fort?“, wiederholte er verständnislos.
„Es verschwand, kurz nachdem ich es für Hart enthüllt habe. Es wurde gestohlen, direkt aus meinem Atelier, aus diesem Haus.“
„Das tut mir leid“, sagte er. „Es tut mir leid, dass es gestohlen wurde, und ich hoffe sehr, dass die Behörden es wiederfinden. Doch falls nicht, kannst du sicher ein neues Bild für Hart malen.“
Nun war sie aschfahl. „Du verstehst nicht, Rourke. Das Bild zeigte Francesca völlig unbekleidet. Irgendwo in der Stadt versteckt jemand mein Porträt der nackten Francesca, und wenn es jemals auftaucht, wird sie sich nie wieder in der Gesellschaft sehen lassen können.“
Zum ersten Mal in seinem Leben war Rourke so schockiert, dass ihm die Worte fehlten.
6. KAPITEL
Dienstag, 3. Juni 1902
12 Uhr
Während ihre Kutsche die Mulberry Street entlangfuhr und sich dem geduckten, viereckigen Backsteinhaus näherte, das das Polizeipräsidium beherbergte, rieb sich Francesca die schmerzenden Schläfen. Seit sie Daisys Haus verlassen hatte, dachte sie über ihr Gespräch mit Rose nach und fürchtete sich davor, den Fall mit Bragg durchzugehen. Ohne Zweifel belastete die Aussage von Rose Hart noch stärker. Francesca hielt ihn weiterhin für unschuldig, aber ihr Beschützerinstinkt war mehr als alarmiert. Was hatte Bragg jetzt vor? Sie musste einen anderen Verdächtigen finden, jemanden, der so offensichtlich in den Fall verwickelt war, wie Hart es zu sein schien – darin bestand jetzt ihre dringendste Aufgabe. Natürlich könnte Rose diese Verdächtige sein.
Um weiter nach Zeugen für die schmutzigen und hässlichen Vorgänge der letzten Nacht zu suchen, war Joel zurückgeblieben. Er hatte sowieso nichts für die Polizei übrig, und Francesca wollte sich mit ihm in einigen Stunden an einer bestimmten Straßenecke treffen.
Raoul hielt die Kutsche an. Durch das Fenster erblickte Francesca Braggs stattliches Automobil, das vor dem Gebäude zwischen zwei Polizeifuhrwerken parkte. Wie üblich standen zwei Polizisten in der Nähe, um die Passanten auf Distanz zu halten.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als der Anblick des großen schwarzen Daimlers bittersüße Erinnerungen in ihr wachrief. Inzwischen hatten sich die Bewohner der Mulberry Street offensichtlich an das Fahrzeug gewöhnt, doch als Bragg vor einigen Monaten seinen Posten angetreten hatte,scharten sich sämtliche Ganoven des Viertels um das Fahrzeug, um es ehrfürchtig zu bestaunen. Letzten Januar, bevor sie sich in Hart verliebt hatte, war Bragg ihr bester Freund gewesen. Es hatte sie geradezu berauscht, mit ihm ihr Talent und ihre Leidenschaft für die Detektivarbeit zu entdecken, und es war auch eine Zeit der Erweckung gewesen. Bragg war der erste Mann, den sie jemals geküsst hatte.
Seitdem hatte ihr Leben unterschiedliche Richtungen genommen. Trotzdem war eine gemeinsame Grundlage geblieben – eine Grundlage aus gegenseitigem Respekt, Bewunderung und tiefer, beständiger Zuneigung. Bis gestern Nacht waren sie immer vollkommen ehrlich zueinander gewesen. Francesca fühlte sich so schuldig, als ob sie ihn gerade erneut anlügen würde. Aber war dem nicht auch so? Schließlich wurden all ihre Unternehmungen und Schritte in dieser Ermittlung von ihrem Bedürfnis geleitet, Calder Hart zu beschützen. Nun erwartete Bragg eine Aussage von ihr, wohingegen sie hoffte, ihm seine Gedanken und weiteren Pläne zu dem Fall zu entlocken.
Auf einmal schien ihr Leben unfassbar kompliziert
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