Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
nicht weigern, wenn ich es ihr sage. Du wirst schon sehen.“
Francesca verkniff sich nur mit Mühe ein Lächeln. Jetzt war ihr klar, aus welcher Richtung der Wind wehte. Mit einer gewissen Befriedigung sah sie ihrem Bruder nach, wie er aus dem Zimmer stürmte.
Vor allem mit ihren von Tränen unterstützten Bitten hatte sie es geschafft, ihren Vorgesetzten dazu zu bewegen, sie eine Stunde früher nach Hause gehen zu lassen. Den ganzen Tag über waren Gwens Gedanken nur um ihre Tochter gekreist, während sie Talg in eine Gussform nach der anderen goss. Bridget hatte nicht noch einen Tag lang Unterricht versäumen sollen, also war sie morgens mit ihr zur Schule gegangen, um sie dort abzusetzen. Keine fünf Minuten später war sie bereits voller Sorge um ihre Tochter gewesen.
Ein Mörder trieb sein Unwesen, und das in ihrer Nachbarschaft. Bridgets Schule war nur wenige Blocks von dem Viertel entfernt, in dem der Schlitzer beim bislang letzten Mal zugeschlagen hatte. Würde ihre Tochter in Sicherheit sein? Gwen glaubte das wohl, doch sie wollte sie nicht allein auf die Straße lassen, weder vor noch nach dem Unterricht. Wenn Bridget etwas zustieß, würde sie nicht wissen, wie sie selbst weiterleben sollte. Das Mädchen war ihr Ein und Alles.
Gwen stand umgeben von Fremden im Mittelgang desPferdefuhrwerks und hielt sich an einer der Halteschlaufen fest. Bridget hatte sich bereits auf den Heimweg gemacht, und Gwen konnte nur hoffen, dass ihr nichts zugestoßen war. Vielleicht hätten sie Irland niemals verlassen sollen. Angesichts all der Dinge, die sich in den eineinhalb Monaten seit ihrer Ankunft in Amerika zugetragen hatten, erschien ihr ihre Heimat deutlich sicherer als New York City. Die Stadt hatte sich zu einem kalten und einsamen, dunklen und bedrohlichen Ort entwickelt.
Sie biss sich auf die Lippe, damit sie nicht zu weinen begann. Eine Rückkehr war nicht möglich, das wusste sie nur zu gut. Für einen Moment sah sie den weitläufigen, gepflegten Rasen, der sich bis hinauf zu der beeindruckenden Residenz aus grauem Stein erstreckte, wo sie früher gearbeitet hatte. Diesen einen Moment lang kam es ihr so vor, als stehe sie am Fuß des langen, gewundenen Kieswegs und sehe den Gärtnern zu, wie sie sich um die Blumenbeete kümmerten. Und sie sah den Hausherrn, wie er auf die breite, flache Vordertreppe kam, ein großer, dunkelhaariger Mann in Reitmantel, Reithose und hohen Stiefeln – ein gutaussehender Mann, der im ersten Jahr, in dem sie für ihn arbeitete, nicht ein einziges Mal gelächelt hatte.
Ihr Herz schmerzte, als diese Erinnerungen an die Oberfläche zurückkehrten. Sie wusste, dieser Schmerz würde niemals vergehen.
Gwen holte tief Luft und verdrängte die dunklen Gedanken, als sie auf einmal spürte, dass jemand hinter ihr sie eindringlich ansah.
Sie drückte die Schultern durch und umfasste die Halteschlaufe fester, da der Bus anhielt, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen. Das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb beharrlich und schnürte ihr den Atem ab. Sehr langsam und beiläufig drehte sie sich um.
Doch die Männer, die hinter ihr im Bus standen oder saßen, waren alle in ihre Zeitungen vertieft. Sie sah den Gang entlang zu den übrigen Fahrgästen, aber keiner von ihnen beobachtete sie. Die hintere Tür ging zu, der Bus setzte sich wieder in Bewegung.
Ich verliere den Verstand , dachte sie.
Er stand derweil auf dem Fußweg und sah dem Bus nach, wie er sich langsam entfernte.
5. KAPITEL
Mittwoch, 23. April 1902
17 Uhr
Die Droschke hielt vor dem Haus, in dem Gwen O’Neil wohnte. Braggs schwarzes Automobil war am Straßenrand vor dem Gebäude geparkt und stellte einen ungewohnten Anblick inmitten der Kutschen und Pferdekarren dar. Er selbst stand gegen die Motorhaube gelehnt da, die Hände in die Taschen seiner braunen Wolljacke gesteckt. Er schien in Gedanken versunken.
Während der Braune des Kutschers den Kopf senkte, drehte sich der Mann um und öffnete das kleine Fenster gleich hinter ihm. Die vordere Sitzreihe war etwas erhöht, und er sah freundlich zu Francesca nach unten. „Das macht zwanzig Cent, Miss.“
Sie gab ihm fünfundzwanzig und wollte den Türgriff fassen, als Bragg ihr bereits die Tür aufhielt. „Bin ich zu spät?“, fragte sie. Mit einem gewissen Unbehagen spürte sie, wie ihre Stimmung sich bei seinem Anblick sofort aufhellte. Wir arbeiten nur zusammen, sagte sie sich, und das nicht schlecht. Die Erfolge der Vergangenheit gaben ihr Recht. Den aktuellen
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