Es war einmal in New York / Nie wieder sollst du lieben
beobachtet. Offenbar stand Leigh Anne vor einem Geschäft und war in Tränen aufgelöst. Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht aufpasste – und da war es schon geschehen. Du weißt so gut wie ich, warum sie so geweint hat“, fügte er finster an.
Hinter ihnen hupte jemand, doch Francesca nahm davon kaum etwas wahr. „Auch wenn sie geweint hat, so weißt du nicht, ob es wirklich deinetwegen war. Du bist nicht für den Unfall verantwortlich. Das ist einfach absurd!“
„Ich hatte gewünscht, sie wäre tot“, entgegnete er. „Wirklich, Francesca, das ist mein Ernst. Mein Wunsch wäre beinahe erfüllt worden!“
Wieder wurde gehupt.
Francesca legte die Hände um sein Gesicht und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. „Es ist nicht wichtig, dass du dir das gewünscht hast. Es ist nicht wichtig, wie wütend du auf sie warst. Du hast ein Recht darauf, so zu fühlen, wie du es tust. Aber deshalb bist du nicht auch für den Unfall verantwortlich. Auf keinen Fall. Du musst aufhören, dir die Schuld zu geben.“
„Das kann ich nicht“, flüsterte er. „Und weißt du, was das alles noch umso schlimmer macht?“
Sie schluckte, dann schüttelte sie den Kopf, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
Er atmete heftig durch. „Was es noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass ich zu spät erkannt habe, wie sehr ich sie immer noch liebe.“
6. KAPITEL
Mittwoch, 23. April 1902
18 Uhr
Das Haus der Channings war auf einem weitläufigen Grundstück errichtet worden und präsentierte sich als Mischung aus den unterschiedlichsten Baustilen. Drei Türme ragten aus dem Dach gen Himmel, und an den scheinbar willkürlich angeordneten Brüstungen und Balkonen schauten Wasserspeier mit boshaften Fratzen in die Welt. Das Haus war zum Teil im gotischen, zum Teil im neoklassischen Stil erbaut worden, doch warum das der Fall war, hatte Francesca noch nie herausfinden können. Die gesamte Familie Channing galt jedoch als exzentrisch, was wohl als Erklärung genügte. Sarahs inzwischen verstorbener Vater war ein leidenschaftlicher Großwildjäger gewesen, daher säumten präparierte Tierköpfe die Wände, und auf dem Boden waren exotische Felle ausgelegt, die in einem eigenartigen Kontrast zum europäischen Stil des Mobiliars standen. Mrs Channing galt wegen ihres arglosen und gleichermaßen unüberlegten Verhaltens in der feinen Gesellschaft als Sonderling, auch wenn sie immer nur wohlmeinende Absichten verfolgte. Sarah, die vor einer Weile für kurze Zeit mit Francescas Bruder verlobt gewesen war, galt als Eigenbrötlerin, war zugleich aber auch eine geniale Künstlerin.
Als Sarah Francesca erblickte, lief sie freudig auf sie zu und begrüßte sie überschwänglich.
Sie selbst freute sich auch, die junge Frau wiederzusehen, die längst eine ihrer engsten Freundinnen war. Sarah war in ihren Augen wirklich bemerkenswert, und in gewisser Weise waren sie beide Seelenverwandte. Sarahs Leidenschaft war die Malerei, und an Evans Seite hätte sie nur unglücklich werden können. Zwar hatte jede Familie versucht, aus den beidenein Paar zu machen, doch der Plan war von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, da Evan und Sarah einfach nicht zusammenpassten. Sie war klein und unprätentios, sie galt als scheu und zaghaft, und damit war sie ganz entschieden nicht die Frau, auf die Even Cahill aufmerksam geworden wäre. Hinzu kam, dass Sarah selbstständig und gänzlich unkonventionell war. Anders als die meisten jungen Frauen im heiratsfähigen Alter war sie nicht daran interessiert, ihre Zeit mit Einkäufen zu vergeuden. Sie mied gesellschaftliche Anlässe, wo sie nur konnte, und Romantik oder Ehe zählten nicht zu ihrem Wortschatz. Ihr Leben galt der Kunst, und das konnte Francesca ihr von ganzem Herzen nachfühlen.
Als Sarah ihr entgegentrat, waren Gesicht und Hände ebenso mit Farbe und Kohlestift verschmiert wie ihr grünes Kleid. Manch anderer Frau hätte der moosgrüne Farbton sicherlich geschmeichelt, doch Sarah hatte schokoladenbraunes Haar, und ihre Haut wies einen olivenfarbenen Teint auf, sodass das Kleid sie brav und blass erscheinen ließ. Francesca hatte ihre Freundin noch nie auf eine Weise gekleidet gesehen, die zu ihr gepasst hätte. Sarah kümmerte sich schlichtweg nicht darum, was sie trug. Das zeigte sich immer wieder – egal wie viel Mühe ihre Mutter sich gab, die passende Kleidung für die Tochter zu beschaffen. Ihre Garderobe war zwar teuer, doch der Stil passte fast nie zu ihrer zierlichen Statur, und
Weitere Kostenlose Bücher