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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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den Widersprüchen.

    Es war einmal diese legendäre Stadt Kabul, oder nicht, in der der »Hippie-Trail« endete und die Kiffer aus aller Welt Haschisch rauchten, »das Kraut der Armen«. Eine Boheme entstand, die Frauen trugen Miniröcke, und die uralte Kultur zeigte sich durchlässig für die jüngste. Wie zu spätantiken Zeiten mischten sich die Einflüsse der Kulturen, und Offenheit charakterisierte das Land. Die Familienstrukturen aber blieben davon weitgehend unberührt: Die Kinderheirat kam damals kaum vor. Die Geburt des ersten Sohnes wurde groß gefeiert. Der Vater eines Mädchens zeigte sich stolz und unnahbar, wo es um die Verheiratung seiner Tochter ging. Zu ihrer Geburt aber wurden kaum je Glückwünsche ausgesprochen, so wie man sich auch nicht oft zu einer Hochzeit gratulierte.
    Verbreitete sich aber die Nachricht von der Geburt eines Sohnes, so kamen die Männer herbei und feuerten Salutschüsse in die Luft. Man hielt es auch für gut, diesem Sohn gleich nach der Geburt seinen Namen und den Gebetsruf mehrfach ins Ohr zu sagen und für das Kind am sechsten Tag eine Feier abzuhalten, weil man davon ausging, dass in den ersten sechs Tagen erhöhte Lebensgefahr für jedes Neugeborene bestand. Am selben Tag wurden zwei Schafe oder Ziegen geschlachtet. Ihr Fleisch verteilte man an die Armen und schor den Kopf des Jungen. Das Gewicht des Haares wurde dann noch einmal in Gold- und Silbergeschenken als Almosen an die Armen verteilt.

    Trotz dieses Vorrangs der Jungen, die in umkämpften Zeiten auch zur Verteidigung der Familie antreten mussten, ist die afghanische Kinderliebe in allen Schichten stark, und wo in der Vergangenheit selbst gutgestellte Familien ihre Kinder in zerrissene Kleider hüllten und im Lehm spielen ließen, geschah es nicht selten aus Aberglauben: Ein solches Kind würde den bösen Geistern nicht auffallen. Kinderlos zu leben wird dagegen fast als ein Verstoß gegen den Gedanken der Familie und der Gesellschaft verstanden.

    Und heute? Die Sorge breitet sich sofort in den Gesichtern aus. Ein Sechstel aller Kinder erreicht das fünfte Lebensjahr nicht. Was tun? Wir gucken teilnahmsvoll. Auch in Kabul sind achtzig Prozent der Menschen auf fremde Hilfe angewiesen. Was tun? Wir verteilen Almosen. 26 Menschen werden im Durchschnitt monatlich durch Minen und Kriegshinterlassenschaften verletzt oder getötet? Wir bedauern. Die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren ist chronisch unterernährt? »Ich seh hier niemanden verhungern«, hörte ich eine Europäerin sagen. Einmal haben wir den Bauern auf dem Lande einen Sack voller Äpfel abgekauft und sie an die bettelnden Kinder der Straßenkreuzungen verteilt. Der Schwarm der jauchzend Davonlaufenden mit Händen voll roter Äpfel gehört zu den glücklichen Bildern, die sich der Armut der Jüngsten abtrotzen ließen.
    Einmal hatte ich im Norden mit einem jungen Lehrer gesprochen, der ohne rechten Abschluss unterrichtete und sagte, angesichts der Not müsste Wissen entscheiden statt Ausbildung. Im letzten Jahr saßen dreißig Kinder in einer Klasse. Nun seien es schon je vierzig in sieben Klassen, besetzt auch von vielen Flüchtlingskindern. Sie brächten aber eine andere Sprache, einen anderen Sprechgestus, andere Kleidung mit, andere Sportarten und andere Ideale. Wenigstens hatte man soeben hier wie an allen öffentlichen Schulen die schwarze Schuluniform eingeführt, die – anders als die braune Hemd-Hose aus Pakistan – ein veritabler Anzug sei und keine Erinnerungen wecke.

    Ich fragte den Junglehrer: »Hast du eine Frau?«
    Da lächelte er entsagungsvoll und erwiderte: »Du stellst mir eine grässliche Frage. Woher soll ich das Geld für eine Frau nehmen? Woher?«
    »Der Arme bekommt weder Hochzeit noch Trauerfeier«, ergänzte sein Vater noch mit einer Redensart, die größer war als die Armut im Raum.
    Einmal sprach ich auf dem Land mit der Lehrerin einer Mädchenklasse. Diese tieftraurige Frau mit der grauen Haut hatte früher in Kabul unterrichtet. Dann verschlug es ihren Mann nach Nordafghanistan, und sie unterrichtete hier, tat es geheim, wenn es nicht anders ging, auch privat und selbst um zwei Uhr nachts. Sie riskierte ihre Freiheit, ihre Unversehrtheit, vielleicht ihr Leben:
    »Als die Taliban da waren, durften wir nicht lernen. Als die Russen da waren, durften wir nicht muslimisch lernen. Immerhin, heute dürfen wir beides.«
    Ihr Mann fiel, einer ihrer Söhne ebenso. Nun ernährte sie ihre fünf Kinder vom spärlichen Gehalt, für

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